Sein großer Irrtum

Von Philosphinx

Er wusste, dass sie jeden Samstag die Kontaktanzeigen dieser großen überregionalen Zeitung studierte, in der nie endenden Hoffnung, doch noch einen Mann zu finden, der mehr als nur hin und wieder das Bett mit ihr teilte. Er kannte sie besser, als ihr bewusst war. Er kannte nicht nur ihren schlanken, hungrigen Leib, der sich ihm seit Jahren mit dieser fast süchtig machenden Hingabe darbot, der ihn stets aufs Neue erregte und seine und ihre Lust explodieren ließ. Er kannte auch ihre Ängste, ihre Wehmut, ihre Verlorenheit und ihre verzweifelte Sehnsucht nach geistiger und seelischer Verbundenheit, nach einer Nähe, die nicht nur die körperlichen Bedürfnisse stillte. Aber er war bereits gebunden, fest eingebunden in eine langjährige Ehe- und Familiengemeinschaft und ein berufliches Umfeld, das ihm einen Bruch nicht verzeihen, ihn für einen Neuanfang mit dieser Frau für alle Zeit verdammen würde. Eine Affäre, eine Liebelei würde man ihm sicherlich nachsehen, alles andere jedoch war schlichtweg indiskutabel. Und so vermied er es, ihre Emotionen auszuloten, ihre melancholischen Phasen zu kommentieren. Er fickte über ihre Traurigkeit hinweg und schürte wieder und wieder das Feuer der Leidenschaft. Und sie ergab sich ihm, klammerte sich an diese Illusion von Licht und Liebe, an diese Illusion von Glamour und Glück. Sie hatte zwar keinen Mann, doch sie hatte einen Lover! Sie wurde begehrt! Ja, er begehrte sie, seine kleine heimliche Geliebte, die ihm ganz alleine gehörte, die ihm geduldig zur Verfügung stand – und gewissermaßen das Abenteuer seines Lebens war.

Er lachte, als sie ihm von der Anzeige erzählte. Er freute sich für sie, für diese unverhoffte Abwechslung, diesen nicht geplanten, nicht vorgesehenen Kontakt. Sie hatte wieder einmal die Anzeigen durchforstet, sie gleichsam mit ihren wachen Sinnen gescannt, und war dann plötzlich an einer hängengeblieben. Eine Anzeige von einer Frau, die naturgemäß einen Mann suchte. Der Text gefiel ihr. Er war nicht alltäglich, nicht abgedroschen formuliert. Nicht das übliche Hervorheben von positiven Eigenschaften und hohen Erwartungen. Die Worte berührten sie. Es hätten ihre eigenen sein können: „Subjektiv attraktive und objektiv liebesfähige Frau sucht den Richtigen – nicht gegen Langeweile, sondern für eine möglichst lange Weile …“ Eine Mailadresse war angegeben und sie konnte nicht widerstehen, darauf einzugehen. Sie setzte sich spontan an ihren Laptop, um dieser Frau ihre Empfindung mitzuteilen, um ihr zu sagen, dass sie ihr das verdiente Glück wünsche und ihr der Richtige begegnen möge. Am nächsten Tag befand sich eine Nachricht in ihrem Postfach. Von dieser Frau. Sie hatte einen französischen Namen und lebte in der Schweiz. Sie hatte sich über ihre Zuschrift gefreut und zeigte Interesse an ihr, ein Interesse, das auf freudige und freimütige Zustimmung stieß. Bahnte sich hier eine Freundschaft zwischen zwei Frauen an, die ähnlich dachten, ähnlich fühlten? Die jahrelang die Erfahrung gemacht hatten, wie trügerisch Männerworte sein können? Die letztendlich wussten, dass es den Richtigen, den Einzigen, den freien Mann für sie doch gar nicht gab? Dass man wohl vergeblich auf diesen einmaligen Zufall wartete und hinfieberte und von einer Begegnung träumte, die eben ausschließlich den Träumen vorbehalten ist, den Träumen , der Phantasie – und der Literatur, die die harte Realität weichzeichnen oder umschreiben kann, die dich in himmlische Höhen entführt und dich nur abstürzen lässt, wenn unten jemand steht, der dich wieder auffängt.

Er war sich seiner Sache so sicher gewesen. Sie hing an ihm. Sie hing an seinem dicken starken Schwanz wie der Fisch an der Angel. Sie war fixiert auf seinen männlichen Körper, seinen unverwechselbaren Geruch, seine zupackenden Hände und sein dominantes Wesen. Eine lesbische Neigung war absurd, eine Umorientierung unvorstellbar, ausgeschlossen. Er würde sie nicht verlieren, niemals. Seine kleine Gespielin war für ihn das Salz in der Suppe, das Sahnehäubchen auf dem großen Stück Kuchen, das ihm das Leben bereitwillig servierte. Und er war ihr Abgott! Ihr Held! Ihr unverzichtbarer Liebhaber!

Diese vermaledeite Zeitung! Ihre vermaledeite Angewohnheit, idiotische Anzeigen zu lesen und darauf zu reagieren. Zwei Frauen, die ursprünglich auf der Suche nach einem Mann, nach einem Partner waren, lernten sich über eine Anzeige kennen und lieben …