Japan und die Atompolitik, die über Leichen geht

Christian Mose "Vierether Kuckucks-Ei"

Kazuhiko Kobayashi

Die aktuelle Lage und die gefährdeten Menschen in der Region um Fukushima und die menschenverachtende Atompolitik aus Sicht eines in Tokyo lebenden Japaners, lautete das Thema des Vortrags zu dem am vergangenen Freitag der Verein „Vierether Kuckucks-Ei“ eingeladen hatte.

Ein bis auf den letzten Platz gefüllter Saal im Haus der Schutzgemeinschaft Alt-Bamberg zeigte, welche Brisanz das Thema Atomkraft auch hier in Bamberg hat.

Der 1946 geborene, prominente, in Tokyo lebende, Atomkraftkritiker Kazuhiko Kobayashi berichtete im Rahmen seiner nunmehr zweiten Vortragsreise durch Europa über die äußerst prekäre Lage der Bevölkerung im Großraum Fukushima nach der Reaktorkatastrophe vom 11. März 2011 und zeigte auf, dass – nicht nur – die japanische Atompolitik über Leichen geht. Von ihm selbst aufgenommene Fotos bewiesen, dass sich Kinder auch heute noch auf gefährlich verstrahlten Spielplätzen aufhalten und ihr täglicher Schulweg ebenso radioaktiv belastet ist. Die Messwerte der radioaktiven Strahlung liegen mit bis zu 20 Millisievert (mSv) pro Jahr weit über dem vor der Fukushima-Katastrophe geltenden Grenzwert von einem Millisievert pro Jahr. Eklatante Abweichungen zwischen den offiziellen Messwerten der Regierung und eigenen, fachkundigen Messungen am gleichen Ort legten zudem nahe, dass die offiziellen Werte bewusst geschönt werden. Je mehr man der 20 km-Sperrzone um die explodierten Kernkraftwerke kommt, desto größer werden riesigen Halden aus großen Plastiksäcken. Sie enthalten das hastig abgetragene, radioaktiv belastete Erdreich und den Bewuchs von Plätzen und Grünanlagen. Doch die Mühe des Abtragens ist nahezu umsonst: Jeder Wind der Staub aus einem noch belasteten Gebiet bringt, trägt auch die gefährlich strahlenden Teilchen aus den explodierten Reaktoren mit sich. Vielerorts stapeln sich die Säcke auf den Grundstücken der Bewohner, da es keine Lagerplätze mehr gibt.

Die Kobayashi immer wieder gestellte Frage, warum in der japanischen Bevölkerung kein größerer Widerstand gegen die Atomenergienutzung erkennbar ist, beantwortete er mit der im Vergleich zu Westeuropa völlig anderen Mentalität des Volkes. Die seit Jahrhunderten, vor allem in den Samurai-Dynastien anerzogene absolute Unterwürfigkeit – Kobayashi verwendet dafür gern den Begriff „Gehirnwäsche“ – führe zu dem für uns Westeuropäer kaum nachvollziehbaren absoluten Obrigkeitsglauben. So würden von ihm interviewte, aus den verstrahlten Zonen evakuierte Menschen unterschiedlichster Schichten, nur äußerst selten der Betreiberfirma Tepco oder der Regierung eine Schuld an dem Super-GAU vom 11.3.2011 geben, und das, obwohl nachgewiesen ist, dass die in Fukushima gebauten Kernreaktoren nicht den für die dortige Erdbebenzone erforderlichen Sicherheitsbestimmungen genügten. Dazu komme, dass die Medien in Japan ausnahmslos von den großen, im Atomgeschäft steckenden Konzernen finanziell abhängig seien; eine einigermaßen objektive, kritische Berichterstattung finde allenfalls noch im Internet statt.

Die „Hilfe“ der internationalen Atomenergiebehörde IAEO habe sich im Wesentlichen auf Ratschläge an die Regierung beschränkt, wie nach der Katastrophe Strahlen-Grenzwerte erhöht werden müssten, damit die Haftungsansprüche an die Betreiberfirma oder den Staat nicht zu groß werden. Bekanntlich gibt es auch bei uns in Deutschland keine Haftpflichtversicherung, die für Schäden durch kerntechnische Anlagen aufkommt; jeder möge seine Versicherungspolicen überprüfen. So wurden die zulässigen Jahresgrenzwerte für Schulkinder einfach auf das Zwanzigfache heraufgesetzt, ein Grenzwert, der bei uns für beruflich strahlenexponierte erwachsene Personen gilt. Die tatsächlichen Messwerte ließen nichts Gutes erwarten: Wie nach den Atombombenabwürfen und der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 sei in den nächsten Jahren mit Tausenden Krebserkrankungen zu rechnen. Anordnungen der Regierung untersagten es den Ärzten die Ergebnisse von Schilddrüsen-Reihenuntersuchungen bei Kindern zu veröffentlichen, die Betroffenen würden weitgehend im Unklaren gelassen. Kobayashi stellte Parallelen zu den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 her, wo die schwer verstrahlte Bevölkerung von amerikanischen Ärzten großen Reihenuntersuchungen unterzogen wurde, ohne dass diese über ihren Gesundheitszustand informiert oder für ihre medizinische Behandlung gesorgt worden wäre. Er habe den Eindruck, dass auch diesmal für die Regierung und die weltweit vernetzte Atommafia die statistische Auswertung der Strahlenschäden im Vordergrund stünde. Besonders schlimm sei der Umstand, dass wie nach 1945 die Hibakusha, die evakuierten Strahlenopfer, von der unbelasteten Bevölkerung aus Angst diskriminiert, ja geradezu geächtet werden. So seinen Eheversprechen aufgelöst worden, nachdem bekannt wurde, dass ein Partner „verstrahlt“ worden sei.

Statt dringend benötigter weitgehender Schutzmaßnahmen und medizinischer Hilfen werde die Bevölkerung mit in den Medien groß aufbereiteten „Kinderbespaßungsmaßnahmen“ beruhigt: So werden, wie bei uns im Karneval, von mit Micky-Maus-Figuren bestückten Fahrzeugen, die regelmäßig durch Fukushima fahren, Süßigkeiten ausgeworfen und die fröhlichen Kinder im Fernsehen zur Schau gestellt.
Die Atomindustrie, „die über Leichen geht“, so Kobayashi, setze alles daran, möglichst bald alle jetzt abgeschalteten Reaktoren aus wirtschaftlichen Gründen wieder in Betrieb zu nehmen, obwohl die vergangenen zwei Jahre gezeigt haben, dass die Atomkraftwerke für die Stromversorgung Japans nicht benötigt werden.

Obwohl Kobayashi auf seinen Vortragsreisen fast täglich über die bedrohliche Situation der Bevölkerung berichtet – tags zuvor in Darmstadt, am nächsten Tag in Wiesbaden, danach in Frankreich – ist seine große emotionale Betroffenheit und sein Bestreben, möglichst vielen Menschen das ihnen unbekannte wahre Ausmaß der Katastrophe zu schildern, für sein Publikum greifbar.

Wie bei allen seinen Vorträgen über „Japan und die Atompolitik, die über Leichen geht“, bat der Referent am Ende um Spenden für eine Strahlen-Kinderklinik in Fukushima. Die von den erschütternden Berichten tief beeindruckten Zuhörer verschlossen sich dem Spendenaufruf nicht.

Der Vierether Kuckucks-Ei e.V. weist darauf hin, dass weitere, dringend benötigte Spenden auf das Vereinskonto überwiesen werden können und von diesem umgehend zweckgebunden und zuverlässig weitergeleitet werden.

Die Kontoverbindung: Sparkasse Bamberg, BLZ 77 500 00, Konto 88 153, Stichwort „Fukushima“

Kazuhiko Kobayashi (66) wohnte fast 30 Jahre in Deutschland und war hier für japanische Firmen tätig. Heute lebt der prominente japanische Atomkraftkritiker in Tokio und befasst sich mit den Folgen von Globalisierung, Neoliberalismus und den Nachwirkungen der Fukushima-Katastrophe im März 2011.

Auf einer mehrwöchigen Vortragsreise durch die Schweiz, Deutschland und Frankreich – seine zweite in Europa – spricht der studierte Germanist über die Folgen des Super-GAUs für die Bevölkerung, die japanische Politik nach der „Havarie“ und die aktuellen Geschehnisse. Er geht auf die Frage ein, warum die meisten japanischen Bürger trotz der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki und dem Super-GAU in Fukushima immer noch im Schweigen verharren und inwiefern internationale Atommächte die japanische Atompolitik stützen. Er beleuchtet den Zusammenhang mit Kernwaffen und die wachsende Atommüllproblematik.

Ein 2011 in deutscher Sprache erschienenes Buch ermöglicht eine Vertiefung der Thematik: Kazuhiko Kobayashi: „Globalisierung und unser Leben – kritisch gesehen, mit nachträglicher Bemerkung zu dem Erdbeben, Tsunami und dem Super-GAU Nordostjapans vom 11. März 2011. Verlag Shaker Media, 128 S., 13,90 Euro, ISBN: 978-3-86858-715-9.)

Kazuhiko Kobayashi nutzt seine Vortragsreisen auch, um Barspenden für eine Strahlen-Kinderklinik in Fukushima zu sammeln. Im vergangenen Winter konnte er bereits eine erste Summe öffentlich an die Ärzte der Klinik überreichen.

Ein Gedanke zu „Japan und die Atompolitik, die über Leichen geht

  1. Herzlichen Dank an die online-Zeitung für diesen informativen Bericht. Ich konnte leider am Samstag nicht bei der Veranstaltung sein. Umsomehr bin ich dankbar, dass die online-Zeitung so ausführlich berichtet.
    Und natürlich Danke an das Vierether Kuckucks-Ei für die Organisation der Veranstaltung überhaupt.

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