In der Nacht dieser Welt: Vom Weinen auf Steinen (am 22. März war Weltwassertag), oder, warum Schweigen nicht immer nur golden daherkommt. Horst Bingels Anthologie, von 1961.

Erzählung

Nachts auf der Straße traf ich Einen
beim neuen Baugrund Nummer vier.
Ich hörte schon von weitem Weinen,
es klang als wieherte ein Tier,
doch war‘s, auf umgestürzten Steinen,
ein Mensch vor einem halben Haus
und rot auf seinen nackten Beinen
rann eine Windlaterne aus.
Du meinst, ich sprach? Das tröstet keinen.
Ich bracht die Nacht mit ihm herum?
Ich ließ ihn weinen auf den Steinen.
Du weißt es auch: Der Mensch ist stumm.

Doris Mühringer

Von Chrysostomos

Allein was sich reimte, galt meinem Vater als Gedicht. Anderes, und andere, ließ er nicht gelten. Und so hält er es, ganz anders als sein Bruder, im hohen Alter noch immer. Ihm, seinem Bruder, ist wohl diese Kolumne zu verdanken, denn er, der Bruder, ließ vieles gelten, alles. Und zeigte mir die Schönheiten der Natur, der Bäume und der Pilze und der Vögel, der Schmetterlinge. Auch mochte er Sprache, und, was etwas anders ist, aber doch sehr viel damit zu tun hat, Sprachen, hatte er doch zuerst in Mainz und dann an der Sorbonne studiert.

Heinrich Heine schenkte er mir, sprach auf Spaziergängen von Ingeborg Bachmann und über Hölderlin, sagte, par cœur, George auf und Günter Eich und Huchel, und wenn er Geburtstag feierte, wurde Walther von der Vogelweide vorgetragen, by heart – bei den schmutzigen Stellen mußte ich hinaus – bisweilen auch Baudelaire und gern auch Shakespeare und Ungaretti, denn den hatte ja die Bachmann übersetzt.

Natürlich kannte er, der Bruder des Vaters, Horst Bingel. Also auch dessen zuerst, ehe sie knapp zehn Monate nach meiner Geburt auch bei dtv herauskam, 1961 bei der Deutschen Verlags-Anstalt, die in jenen Jahren noch in Stuttgart zuhause war, erschienene Anthologie Deutsche Lyrik. Gedichte seit 1945. Palindromische 101 Autorinnen und Lyriker sind darin vertreten, zumeist ohne Palindrom, abgesehen von dem ubiquitären Nebel. Es kommen darin Schriftsteller aus dem gesamten deutschen Sprachraum zu Wort, heißt es auf dem Vorsatzblatt, „aus West- und Ostdeutschland, aus Österreich, aus der Schweiz und aus Luxemburg“.

In den Gedichten spiegele sich das „Bild unserer Gegenwart“ in seiner ganzen Vielfalt. Die thematisch gegliederte Anthologie „zeigt, wie sich die Dichter seit Kriegsende mit der Welt, in der wir leben, auseinandergesetzt haben, und sie breitet die Möglichkeiten dichterischer Sprache aus, die heute dem Lyriker zu Gebote stehen“. Neben Ingeborg Bachmann und Wolfgang Bächler, neben Johannes Bobrowski, Elisabeth Borchers und Wolfgang Borchert, neben Celan, Enzensberger und Fried sind in Horst Bingels Sammlung auch etliche Lyriker vertreten, die man heute kaum mehr zur Kenntnis nimmt: Franz Xaver Erni, Richard Exner, Rainer Maria Gerhardt – der vor allem als Verleger und Übersetzer herausragendes geleistet hat – Kuno Raeber, Albert Arno Scholl, der seit 1963 in der Nähe von Erlangen lebt, und Doris Mühringer.

Mühringer, 1920 in Graz geboren, galt in den Fünfzigern und Sechzigern als eine der großen lyrischen Stimmen. Mit Übersetzungen aus dem Englischen und mit Verlagsgutachten hielt sich die menschenscheue Mühringer über Wasser. 1954 wurde ihr der Georg-Trakl-Preis zuerkannt. Sie veröffentlichte Lyrik, Kinderbücher und Kurzprosa. Im Mai 2009 verstarb Mühringer in Wien.

Abschließend eine weitere Kostprobe von Doris Mühringers lyrischem Können, entnommen ihren Ausgewählten Gedichten, die der (zu) früh verstorbene Christian Loidl mit einem Vorwort versehen hat.

Mit bloßen Füßen

Auf die Suche nach meinen Schuhen
bin ich gegangen
über Schatten und Licht
über Jahr und Tag
über Land und Meer
über mich und dich

Hängen
sah ich sie heut
über dir und mir
über Milch und Blut
Viel zu weiß
Viel zu rot