„Man hat uns eben politisch erzogen“

Andreas Reuß

v.l.n.r.: Hans Scholl, Sophie Scholl, Christoph Probst

Sie konnte und wollte nicht wegsehen: Heute vor 70 Jahren wurden Sophie Scholl gefangen genommen und kurz darauf hingerichtet. Mit ihr starben Hans Scholl und Christoph Probst, weitere Mitglieder der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ folgten ihnen bald darauf in den Tod.

„Liebe Lisa! Voriges Jahr um diese Zeit saßen wir, darunter meine ich mich und die mir damals anvertrauten Kinder, um den Sandkasten in der letzten warmen Spätherbstsonne, ich erinnere mich gerne an diese Tage, die beinahe wie Ferientage waren. Ich spielte mit den wenigen Kindern, ohne mir zuvor einen Plan ausgearbeitet zu haben, und kam mir auch nicht wie eine Tante vor, sondern viel eher wie eines von ihnen.“

Die junge Frau, die hier einer Freundin die harmloseste Sache von der Welt, nämlich ihre Arbeit als Kindergärtnerin schildert, riskierte zur selben Zeit ihr Leben. Und der Herbst, in dem sie schreibt, sollte ihr Letzter sein. Sie wurde am 22. Februar 1943 nach einem Urteil des sogenannten Volksgerichtshofs hingerichtet. Fast sechzig Jahre später, im März 2001, beschloss der Ministerrat des Freistaats Bayern, in der Walhalla bei Regensburg eine steinerne Büste für sie aufzustellen, wie für eine Heldin. Ihr Name war Sophie Scholl.

Wie um ihre Harmlosigkeit zu unterstreichen, widmet sie sich im zitierten Brief später dem Garten bei ihrer Münchner Wohnung: „Alles ist zum Staunen schön, daß ich noch nicht weiß, was für ein Gefühl mein sprachloses Herz dafür entfalten soll, denn für eine reine Freude daran ist es noch nicht reif genug, es staunt und begnügt sich mit entzücktem Staunen.“ (An Lisa Remppis, München-Solln, 10.10.1942.)

Man ahnt als Leser dieser Zeilen nicht, dass die Autorin, die sich sprachlos fühlt und nicht einmal reif genug, „reine Freude“ gegenüber der Natur zu empfinden, zur selben Zeit den Kampf gegen Hitler aufgenommen hat: Im Herbst 1942 wurde sie mit ihrem Bruder Hans sowie den Studenten Christoph Probst und Willi Graf eine der Aktivsten in der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“.

Nie wollte sie eine Heldin sein, nicht einmal jemand, der in irgend einer Weise auf sich aufmerksam macht. „Mir will es oft gehen wie Dir, wenn ich draußen bin zwischen Bäumen und Wiesen. Ich möchte nur so eben sein, ohne Verantwortung. (Früher war mir sogar eine Pflanze zuviel, ich wäre manchmal zugern nur ein Stück Baumrinde gewesen …).“ (An Lisa Remppis, 21.6.1941.)

Aber die politischen Ereignisse lassen ihr keine Ruhe, und auch die Tatsache, dass sie ein „Mädchen“ ist – sie wurde 1921 in Forchtenberg an der Kocher geboren – kann sie nicht von ihrer Verantwortung befreien. Am 9. April 1940, also ein dreiviertel Jahr nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, schreibt sie an ihren Verlobten, den Leutnant Fritz Hartnagel: „Manchmal graut mir vor dem Krieg, und alle Hoffnung will mir vergehen. Ich mag gar nicht dran denken, aber es gibt ja bald nichts anderes mehr als Politik, und solange sie so verworren ist und böse, ist es feige, sich von ihr abzuwenden. Wahrscheinlich lächelst Du und denkst, sie ist ein Mädchen. Aber ich glaube, ich wäre sehr viel froher, wenn ich nicht immer unter dem Druck stünde – ich könnte mit viel besserem Gewissem anderem nachgehen. So aber kommt alles andere erst in zweiter Linie. Man hat uns eben politisch erzogen.“

Die politische Erziehung ging hauptsächlich auf ihren Vater zurück, der ein entschiedener Gegner des Nazi-Regimes war. Daraus entstanden heiße Diskussionen am Familientisch; denn der Sohn Hans war anfangs fasziniert von der Hitler-Jugend, bis ihn vor allem die Bildungsfeindlichkeit dieser Kreise abstieß. Er liebte die Schriften Stefan Zweigs, der als Jude verboten war, die Bilder von Franz Marc – übrigens ein Nachfahre von Julia Marc, der Bamberger Geliebten E.T.A. Hoffmanns -, die als „entartete Kunst“ verunglimpft wurden und verstand Nietzsches Schriften als Aufforderung zum Widerstand gegen Hitler.

Nach den Erinnerungen ihrer älteren Schwester Inge war Sophie Scholl, obwohl Mitglied des nationalsozialistischen „Bundes Deutscher Mädel“ (BDM), vom Treiben dieser Gruppierung nie besonders begeistert: „Vielleicht war der permanente Betrieb, mit dem man damals die jungen Menschen in Atmen hielt, mit ein Grund für sie, sich allmählich zu distanzieren.“ Außer dieser sinnlosen Unruhe gab es noch einen weiteren Grund, der Sophies innere Distanz verursachte: Jüdische Klassenkameradinnen wurden aus dem BDM ausgeschlossen. Das empörte schon die zwölfjährige Sophie und bewegte sie zu Protesten, die sie laut vorbrachte.

Schon an dieser Stelle ihrer Biographie ist man der Persönlichkeit Sophie Scholls, ihren innersten Beweggründen sehr nahe: Es ist die Gleichzeitigkeit von Meditation und Aktivität, von Ruhe und Zupacken, von Zurückgezogenheit und Präsenz, wenn jemand gebraucht wird, der nicht nur redet, sondern auch etwas tut.

Mit den anderen „Weiße Rose“-Mitgliedern verband sie außerdem eine sehr moderne, weil ringende, aber zutiefst empfundene, ja mystische Gläubigkeit, welche die eingangs erwähnte Zurücksetzung der eigenen Person erklären mag: „Immer, wenn ich bete, rinnen mir die Worte fort, ich weiß keine anderen mehr als: Hilf mir! Etwas anderes kann ich auch nicht beten, weil ich noch viel zu niedrig bin, um beten zu können. So bete ich darum, beten zu lernen […] Wie schön der Himmel heute war, die unschuldigen Bäume und Pflanzen, wie wunderbar und schön. Und doch macht mich ihr Anblick nicht freudig, er erfüllt mich mit einer sanften Traurigkeit. Ein unschuldiges Hineingezogenwerden in eine Schuld, in meine Schuld:“ (Tagebucheintrag vom 10.10.1942)

Die bescheidene Studentin Sophie Scholl, für Menschlichkeit kämpfend, ihr Leben riskierend, sich schließlich selbst opfernd, sagt nicht: Ich habe von allem nichts gewusst, ich konnte nichts tun, ich wurde zum Schweigen gezwungen. Sie schaut genau hin, nimmt Stellung, tut etwas – und bekennt sich trotzdem schuldig. Kann es ein größeres Vorbild geben?

Als sie im Mai 1942 in München mit dem Studium der Biologie und Philosophie beginnt, entdeckt sie schnell, dass die weit verbreiteten Flugblätter der „Weißen Rose“ von ihrem Bruder stammen müssen. Im zweiten Flugblatt (vom Juni 1942) wird bereits die Ermordung der Juden erwähnt: „Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschheitsgeschichte an die Seite stellen kann.“

Hans kann vor seiner Schwester, der bildungshungrigen, aber nie „abgehobenen“, der aufgeweckten und vom Gewissen getriebenen Sophie nichts mehr verheimlichen. Unerschrocken, aber um ihr Leben zitternd, steigt sie in die Flugblattverteilung ein. Ab Dezember 1942 wohnen die Geschwister in Schwabing zusammen, kuscheln sich nachts aneinander, um nach den Gefahren des Tages Trost zu finden. Manchmal geht Hans mit den anderen auf die nächtlichen Straßen und schreibt Worte wie „Hitler, Massenmörder“ an die Hauswände.

Das verfehlt seine Wirkung nicht. In mindestens sieben weiteren deutschen Städten werden die Flugblätter der „Weißen Rose“ verteilt, das sechste Flugblatt wird nachgedruckt und von britischen Flugzeugen massenhaft über Deutschland abgeworfen. Schon nehmen die Studenten Kontakt mit Berliner Widerstandsgruppen auf – da kommt das jähe Ende: Am 18.2.1943 entdeckt der Hausmeister der Münchner Universität Hans und Sophie beim Auswerfen des sechsten Flugblatts und nimmt sie gefangen. Fünf Tage später sterben sie unterm Fallbeil, mit ihnen Christoph Probst, Vater dreier Kinder. Auch andere werden entdeckt und zum Tode verurteilt, Willi Graf folgt ihnen am 12.10.1943 in den Tod.

Die Flugblätter haben nichts von ihrer Bedeutung verloren, genauso wenig wie die Tagebücher und Briefe der Mitglieder der „Weißen Rose“.

Flugblätter
Auch als Bilder, mit Kommentaren

Hans Scholl, Sophie Scholl: Briefe und Aufzeichnungen, Frankfurt 1984.
Vinke, Hermann: Das kurze Leben der Sophie Scholl, Ravensburg 1980.