„Das Venedig Prinzip“ und Disneyland?

Wolfgang Neustadt

Das Venedig Prinzip. Foto: Filmtank

der Niedergang der Lagunenstadt; zum neuangelaufenen Dokumentarfilm „Das Venedig Prinzip“

(Odeon/Lichtspiel bis 19.12.12; Regie: Andreas Pichler, Produktion: Filmtankwww.venedigprinzip.de)

Für Daheimgebliebene endlich schon wieder Venedig auf der Leinwand (wir schrieben bereits sehr angetan über den Dokumentarfilm „6x Venedig“).

Venedig aber hier und jetzt ist rein nichts mehr für touristische Hedonisten, außer noch für alternative Isolationskünstler und Einsamkeitsfanatiker. Venedig stirbt, langsam und das nun wirklich! Pro Jahr sind es 20 Mill. Touristen, pro Tag 60.000. Vor 20 Jahren lebten dort noch 125.000 Einwohner, jetzt überleben noch 58.000. Und die sind hoffnungsfroh auf der Flucht nach Venedig (Mestre) oder sie sterben einfach aus. Zur Toteninsel S. Michele ist es von San Marco eine knappe halbe Stunde vaporetto, Richtung Murano. 2030 wird die Stadt der Serenissma einwohnerfrei sein! Für diese, die bleiben müssen, ist es ein hoffnungsloser Überlebenskampf. Die Immobilienpreise liegen bei 10 – 15000 Euro/m2, für Prestigeobjekte genau richtig. Mieten werden entsprechend unerschwinglich. Die Bausubstanz leidet unter den Bausünden vor allem der ruhmreichen Moderne. Allenthalben mindestens 600 Jahre alter Putz bzw. Mörtel: Nachhaltigkeit > 600 Jahre, darüber tödlicher Zement, Nachhaltigkeit 30 Jahre. Die Infrastruktur bricht unbarmherzig weg: wie der Fischmarkt im Rialto, die alte Post wird Benetton-Shopping Mall, weg der kleine Laden oder Supermarkt um die Ecke, ärztliche vor-Ort-Hilfe etc, alles verflüchtigt sich.

Vielleicht symptomatisch, dass sich der eingeborene Weinhändler drogentechnisch noch halten kann (sfuso und „al minuto“: Kleinhandel). Jedes Jahr ein Kinofestival!, aber schon seit Jahren kein Kino mehr. Das muss nun alles reichen.

Venedig kann nicht mehr funktionieren. Es wird dort richtig richtig ungemütlich, nicht nur wegen der Touristenmassen. Das wars ja schon vor 30 Jahren, wenn auch noch vergleichweise unterdimensioniert. Die ersten besten Seitengassen waren schon immer Geheimtip. Das sind sie weiterhin, aber eben nur noch für hardcore-Venedig-Fans, denen einzig noch der Traum, die trügerische Idylle reicht von einer lebenden Stadt. Ohne Bar nebenan und ohne den/die täglichen „ombra/e“ (zwei, manchmal drei Glas Wein zum Aufwärmen oder auch nur zum Abkühlen), ohne Tante Emma Laden, ohne menschlich temperierte Nähe.

Signifikant ist auch, dass die ehemals nachhaltig verortenden dreidimensionalen Proportionen total hin sind. Monsterhafte Kreuzfahrer räumen auf (1.400 Schiffe pro Jahr, das allein sind täglich 5 – 10000 Touristen, in Hamburg sind es zum Vergleich 70 Schiffe). Man denkt und politisiert italienweit seit ca 1 Jahr an dem Problem. Die Kreuzfahrer bringen, ähnlich wie vor ca 800 Jahren, nicht nur symbolisch ein neues System in den Laden, diesmal das des Kommerzes. Politischer Widerstand ist absehbar schon im Ansatz zwecklos. Die Stadt ist angeblich pleite, sie macht nur noch Verluste. Eine kleine Texteinblendung im Film versucht den Denkanstoß: „Sie (die Stadt) könnte was tun, aber …“

Das Venedig Prinzip. Foto: Filmtank

Das wirkliche Geld geht an die Multinationalen, in der Stadt bleibt nichts. Venedig ausverkauft sich.

Tudi Sammartini. Foto: Filmtank

Nicht nur Tudi Sammartini glaubte, die Dinge, das Leben und die Verhältnisse irgendwie unter Kontrolle zu haben. Ihr und uns bleibt nur die eiskalte Ernüchterung. Venedig ist ein „Bordell“, protestiert sie. Kein „Sauhaufen“, wie die falsche, penetrant deutsch-versittlichende Untertitelübersetzung glauben machen will. Ein gröblicher Unterschied. Ein Sauhaufen ist eine simple stinkende Hinterlassenschaft. Ein Bordell hat was mit Prostitution zu tun. That’s the point: Venedig bietet sich an, besser: verscherbelt sich. Hilflose Proteste von verwegenen Ortsansässigen bringen es auf das Plakat: Venezia ist keine Ware, die man ver-/kaufen kann. Und eben schon lange kein Sauhaufen!

Der Dokumentarfilm hinterlässt nachhaltig Bedrückung mit einem tiefen Gefühl teilnahmsvoller Hilflosigkeit gegenüber den Zeitläuften …

Sehr gelungen wird „Das Venedig Prinzip“ und sein „sfumato“ trotzdem noch im Gleichgewicht gehalten. „Schön-typische“ Einstellungen alla „Venice at its best“ und “acqua alta“ wechseln mit kritischen, aber auch Kreuzfahrer-verherrlichenden Statements. Die Frauen hier sind hintergründiger, treffsicherer, sarkastischer. Sie machen schöne kleine Rechnungen auf, auch mit ihren Männern, überhaupt mit ihrer Vergangenheit: nur noch Schuld (en)?

Zurückhaltende Text- oder Zahleneinblendungen stellen unaufdringlich den weiter erforderlichen kritischen Kontext her. Die OmU-Übersetzungen sind ok, mit Ausnahme des ärgerlichen „Bordell-Saustalls“ (s.o.).

Der Film argumentiert ganz ohne Pathos, Hysterie, Dramatik oder übertriebene Krittelei, sehr einfühlsam.

Und Andreas Pichler (Regisseur) freut sich, wenn der Film Denkanstöße leisten konnte. Das hat er freilich. Aber mit welchen allzu dringend faktisch zu ziehenden Konsequenzen? Gegen den unbändig globalen Kommerz, auch nur gegen die echte Einsamkeit in den calli (venezianische Gassen)?

Venedig. Foto: Filmtank

P.S.: Bamberg ist ja übrigens nicht Venedig …, trotz der sieben Hügel!

(weitere Hintergrundinfos siehe www.venedigprinzip.de oder beim Autor)

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