Criticus
Der Verfasser versammelt in seinem Essay viele Beobachtungen, die wir so oder so alle schon irgendwie kennen, zu einer schonungslosen Diagnose unserer Gegenwartskultur, die als Hoch-Zeit des Dilettantismus erkannt bzw. entlarvt wird. In unserer Gesellschaft wird „geträumt und gehandelt, gekämpft, gezittert und aufgetrumpft, gelogen und betrogen, dass es eine Art hat. Minister mit und ohne Titel, eitle Diplomaten und große Männer der Geschichte, Diktatoren, rote und braune, Kriegsherren und Revolutionäre, bedeutende Unternehmer und Banker, die fröhlich verzocken, was ihnen nicht gehört, bejubelte Sänger ohne Stimme […], tumbe Toren und wahre Lichtgestalten treiben das Geschehen an.“ So beschreibt Thomas Rietzschel eingangs die ,Helden’ seines Buches, die nach und nach konkrete Gestalt annehmen und auch konkrete Namen bekommen. In Kenntnis des kulturgeschichtlichen Typus analysiert er die moderne Ausprägung des Dilettanten und zeichnet sein perverses Psychogramm, das sich als Amalgam aus Hochstapelei, Hybris, Narzissmus, Amoralität, Inkompetenz und Autismus darstellt. Diese Persönlichkeitsstruktur wird als Reaktion auf strukturelle An- und Überforderungen vieler Menschen unserer Gesellschaft erklärt und zumindest ansatzweise auch entschuldigt, zumal der Dilettantismus vieler ,Stars’ unserer Kultur sein Unwesen nur dank der komplizenhaften Toleranz eines millionstarken Publikums (,Fans’, Wähler, ,Anleger’, Mediennutzer etc.) entfalten kann. Viele unterschiedliche Leser werden in Rietzschels Essay das bashing ihres ,Lieblings’-Dilettanten bzw. -Dilettantismus finden, mag der nun in der politischen Sphäre angesiedelt sein, im Kunst- und Medienbetrieb, in der Wirtschaft, Wissenschaft oder sonst wo. Mir persönlich haben z.B. die Abschnitte zur Rechtschreibreform und zur Jauch-Sendung Wer wird Millionär? besonders aus dem Herzen gesprochen, aber letztlich kommt es Rietzschel auf den großen Zusammenhang an, und der stimmt zu tiefer Sorge. Denn im Spiegel dieses kritischen Blicks erscheint das Bild einer ignoranten, selbstverliebten und intellektuell wie moralisch verwahrlosten Kultur, das angesichts der angeführten Belege nicht einfach als böswillige Karikatur abgetan werden kann.
Thomas Rietzschel: Die Stunde der Dilettanten. Wie wir uns verschaukeln lassen.
Wien: Paul Zscholnay Verlag, 2012
ISBN: 978-3-552-05554-4
17,90 Euro.
Ich hatte heute das Vergnügen Herrn Rietzschel auf Ö1 persönlich zu hören und fühlte erleichtert, daß ich nicht alleine bin mit meinen Gedanken und Beobachtungen.
Man sollte auf ihn täglich hinweisen oder zumindest immer dann, wenn es tönt: Scheitert der Euro, scheitert Europa!“ oder auf die „Unmenschlichkeit bzw. Undurchlässigkeit“ des deutschen Bldungssystems hingewiesen wird oder eine Sportreporterin von der „Landsfrau“ spricht, wenn sie „Landsmännin“ meint oder die halbgebildeteten Journalisten (mittlerweile nennen sie sich Tschurnalisten) „you“ grundsätzlich mit „du“ übersetzen,weil sie das einmal auf ihrer Klippschule gelernt zu haben meinen. Daß der Lehrer gesagt hat, es gibt eigentlich die Form „thou“ etc. und am besten vermeidet man das Dilemma „du“ Sie“ „ihr“ mit „man“, das ist oberlehrerhaft und uncool und Gottweißwas. Ja, Thema dieses Essays.
Bravo, guter Tipp!
Offenbar gabs dafür nur einen österreichischen Verlag! Da haben wir nochmal Glück gehabt, bei uns ist ja doch alles in Ordnung!