Wolfgang Neustadt
Die Kulturpolitische Gesellschaft (KuPoGe) widmete ihr Beiheft „kulturpolitische mitteilungen“, 5/2012, 82 Seiten, vollständig der Diskussion des „Kulturinfarkt – Von allem zuviel und überall das Gleiche“.
Mit diesem Heft wird klar: das Thema hat voll den Nerv der öffentlichen Kulturpolitik getroffen. Das ist erstmal gut, stand doch meine Frage nach einer in Zukunft überhaupt je existierenden Diskussionsplattform im Raum (siehe Buchkritik). Insofern kommt das Thema endlich auch öffentlich übergreifend, nicht nur in den namhaften Feuilletons, zu seinem Recht, sollte man meinen.
Wie sind nun die im Beiheft von der KuPoGe versammelten Beiträge zur Infarktprognose zu bewerten? Die Reaktionen besonders der „öffentlichen Kulturpolitik“ bleiben aufgeregt und nervös. Sie lesen sich in Stil und Argumentation keineswegs als „über den Dingen stehend“. Erstmal nicht sehr verwunderlich, bei der provokant- polemischen Infragestellung des öffentlichen Kulturförderungssystem überhaupt durch den „Kulturinfarkt“. So wollte das Buch in der Tat fast ohne Zahlenapparat auskommen. Die Autoren vereinfachten, überspitzten, irrten auch, wiederholten, verfingen sich in Widersprüche und lagen m.E. besonders mit ihrem Zukunftskonzept leider banal daneben.
Schon bei formaler Betrachtung ergibt sich ein ernüchternd klarer Befund über Positionierungen und Machtverhältnisse der beiden sich gegenüberstehenden Parteien (pro und contra prophezeiter Infarkt). Statistisch stehen 12 contra-Infarkt-Artikel (knapp 50 Seiten) gegen ca. 7-pro- Artikel (ca. 25 Seiten). Das ist deutlich und verspricht Meinungsbildung. Der Schlußbeitrag „Nachhaltige Entwicklung …“ versucht, auf die Zukunft gerichtet, zu vermitteln.
Kernstück des ganzen Beihefts ist der Beitrag von Bernd Wagner: „Risikopatient Kultur?“ (Umfang 22 Seiten!), der u.a. gereizt mit einem gegenargumentativ letztlich hilflosen Zahlenapparat und Totschlagsargumenten gegen den „Kulturinfarkt“ antritt. Wagner räumt zwar auch viel ein (divide et impera), z.B. wäre die Kulturstatistik in D nicht gut entwickelt, die veröffentlichten statistischen Daten stimmen nicht immer überein oder: … das ist in der Tat unbefriedigend.. Woran liegts, Herr Wagner? Tenor seiner Amtshandlung: nur ordentlich viele Daten und Zahlen, dann kriegen wir „die Wahrheit“ schon in den Griff. Wagners Zahlen werden ähnlich den Kulturinfarktzahlen mit Sicherheit geduldig sein. Hauptsache sie helfen aufzurüsten. Inhaltlich zieht sich Wagner allzu durchsichtig und verschleiernd auf die finale Position zurück, dass ja alles schon seit den 1990iger Jahren bekannt und diskutiert sei. Wagner muss sich hier die Frage gefallen lassen, was denn bis in die Gesellschaft hinein für uns alle nachvollziehbar Durchdringendes wirklich passiert ist?
Die Interessen und die Stoßrichtung seiner durchgehend aus „der Kulturpolitik“ (!) stammenden Kollegen (vor allem Scheytt, Sievers, besonders restaurativ: Schwencke, leider auch signifikant Glaser) werden allzu deutlich: abwiegeln, unaufhörlich weiter die altbekannten Fragen diskutieren, beraten, initiativ werden, rechthaben, selbstreferentiell in Totenstarre verharren und den status quo verwalten. Dabei staatsbyzantinistisch aus dem Elfenbeinturm heraus flott die kulturpolitischen Staatspfründen verteidigen. Und: ritualisierte Sonntagsreden halten (s. Beitrag Martin), den Neumann geben, halt. Das kommt alles genauso rüber, wie es die Infarktspezialisten prophetisch diagnostizieren. D.h. den Befund immer schön mit denselben Methoden der Vergangenheit angehen (Beitrag Föhl, Glogner-P., Pröbstle). Die KuPoGe läuft voll in die von den Infarktkritikern gestellte Falle, ohne es zu merken. Man verwaltet sich trotz tausender Papiere und Zahlen selbst. Wagner behauptet selbstgefällig weiter, gar nicht ohne Chuzpe: Kulturpolitik sei nicht identisch mit Interessenpolitik, quod demonstrandum est: der Gegenbeweis ist die KuPoGe selbst.
Versteckter inhaltlicher Faden des Beihefts ist die Verbarrikadierung der staatlich interessierten Kunstpolizisten hinter den verfassungsmäßigen demokratischen Normen und Werten, gar hinter denen der Weltgemeinschaft wie Menschenrechte und Menschenwürde, natürlich gegen das aufgemotzte Gespenst jedes Zentralismus’. Auch wenn Wagner beteuert, dass es bei der Therapie nicht um die Bewältigung des Gegensatzes Reform oder Revolution geht, wird aber doch genau diese Angst unterschwellig geschürt. Des Pudels Kern ist eben die angeblich uneinnehmbare Festung unseres verfassungsrechtlich verbürgten Föderalismus’ (bezüglich Subsidiarität ist man sich leider mit den Infarktspezialisten einig). So kommt (fast) auch niemand auf die (sogar kostensparende!) Idee, es doch endlich mal mit dem föderalistischen Prinzip richtig aufzunehmen, zumindest auf dem Kultur- und Bildungssektor. Nein, dieses Prinzip bleibt wie in Stein gemeißelt, wie auch das sog. kulturpolitische Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern (Hebborn).
Also nicht einmal Kooperation ist verfassungsrechtlich möglich? Kann, darf und muss das alles unter den mittlerweile sich arg verhärtenden kulturpolitischen Bedingungen weiter so bleiben? Nur ganz verstohlen wagen sich Lynen, eher allgemein bleibend, sowie Carl heran ans heiße Eisen. Carl (als Vertreter der unversöhnlichen anti-Infarktlinie !) pickt sich herätisch die Denkmalpflege heraus und wünscht hier eine stärkere Verbindung in der Zielsetzung von Erhalt und Nutzung. Wacker, aber dünn. Auch spricht er sich verblümt für eine breitere Auslegung des Begriffs „kulturelle Bildung“ im Sinne einer stärkeren Berücksichtigung von Naturwissenschaft und Technik aus. Ob er darunter etwa schon die dringend erforderliche Zentralisierung der Bildungspolitik verstehen will, bleibt leider sein Geheimnis. Natürlich wird gegen eine verfassungsrechtlich erforderliche Neubewertung des Föderalismus gebetsmühlenartig stets das Totschlagsargument aus dem restaurativen Argumentenkoffer gezückt (so bei Wagner, leider aber auch bei Lynen) mit der altbekannt opportunen, prophylaktischen, eher profilneurotischen Reaktion des demokratischen Rechtsstaats auf die Perversionen des NS- Systems.
Den Autoren des „Kulturinfarkt“ wird freilich auch Platz eingeräumt, aber im Grunde nur, um ihre Positionen noch mal auf vier Seiten zusammenzufassen. Leider erhielten sie (hony soit qui mal y pense!) nicht die Gelegenheit (oder sie ergriffen sie nicht?) zur direkten Widerrede, insbesondere auf das Wagnersche Pamphlet Punkt für Punkt einzugehen.
Erfreulicherweise dürfen noch weitere Beiträge den begonnenen kritischen Infarkt-Diskurs durchaus konstruktiv fortsetzen: Rantasa mit seinem bemerkenswert unaufgeregten Kommentar aus dem fernen Österreich, ferner Lynen, Martin, Vermeulen und mit Einschränkungen Deeg und Hippe. Vor allem beißt man sich in diesem Lager nicht vordergründig, wie bei den signifikant überwiegenden Verteidigern des Istzustands, an Fragen der Belegbarkeit von Zahlen, an inhärenten Widersprüchen oder irritierenden Grobheiten des „Kulturinfarkt“ fest. Am Zukunftskonzept der Infarkt-Autoren hat aber überraschend und im Gegensatz zum Rezensenten hier niemand grundlegend etwas auszusetzen.
Der letzte Diskussionsbeitrag ist, gelinde gesagt, schwierig (Autorengruppe: Föhl, Glogner-P., Pröbstle: „Nachhaltige Entwicklung“). Er hat natürlich die Aufgabe, ein Konzept gegen die Infarktspezialisten aufzubauen. Von einer Autorengruppe, die offensichtlich verwoben ist mit den systemischen Interessen der KuPoGe und dieser offenbar auch zuarbeitet. Es bleibt hier ein aromatisches Glaubwürdigkeitsdilemma. Zwar gibt es durchaus positiv zu nennende kritisch-konstruktive Ansätze wie z.B., der Herausforderung, wie schon oben gesagt, nicht mit den Mitteln der Vergangenheit zu begegnen. Oder die Forderung, die Geschlossenheit des eigenen Systems aufzubrechen (!). Letztendlich aber erscheinen die organisatorisch sowie inhaltlich zu unterstellenden Bindungen an die KuPoGe allzu durchsichtig und somit kontraproduktiv.
Aufschlussreich ist der Blick zurück auf die Anfänge und den politischen Werdegang der KuPoGe (vgl. Beitrag Schwencke). Sie wurde 1967 sozialdemokratisch gegründet, hatte also einen politisch-innovativen Impetus (u.a. „Kultur für alle“), mitten in der ersten wirklichen gesellschaftlichen Aufarbeitungsphase des Nationalsozialismus. Daraus hat sich aber nunmehr bis heute leider augenscheinlich nur ein systemerstarrter, den jeweiligen politischen Verhältnissen wie jetzt angepasster, affirmativ ausgerichteter, sich selbsterhaltender Interessenmix „demokratischer Kulturpolitik“ entwickelt. Dessen Maximen müssen natürlich besonders im gegenwärtigen Regierungslager nur weidlich Gefallen finden. Ob es auch zu den jeweils politischen Verwicklungen jemals schon selbstreflexive Ansätze gegeben hat, bleibt höflich anzufragen.
Aktuell zumindest grüßt der Balken im eigenen Auge!
Die KuPoGe gibt sich natürlich unanfechtbar unabhängig, ungebunden und überparteilich (vgl. Selbstdarstellung am Schluss des Beihefts). Kein Wort z.B. zu einer finanziellen Trägerschaft.
Auffällig auch, wie viele und wie billig die KuPoGe dickste, abstrakteste Themen anbieten kann (s. passim bemerkenswerte Eigenwerbung für KuPoGe-Produkte im Beiheft, s.a. thematisch signifikante Aufführung der KuPoGe-Jahrbücher ab ca. 2000 bei Wagner). Dahinter steht ganz offensichtlich ein bestimmtes kulturpolitisches Interesse. Wessen und für wen eigentlich wirklich? Es besteht begründeter Verdacht sowohl einer zutiefst selbstreferentiellen Interessenlage auch mit politisch gewollter Alibifunktion. Was nur wieder ganz im Sinne unserer Infarktspezialisten sein kann, zurecht.
Und was sagt denn hierzu eigentlich und überhaupt der „Steuerzahler“? Fühlt er sich öffentlich-kulturpolitisch ausreichend repräsentiert, eher bevormundet oder gar vergessen?
Ein paar letzte Anmerkungen und Nachfragen seien erlaubt.
Herr Wagner beansprucht mit seinem zentralen Beitrag die offenbar fast schon ewig andauernde Argumentationshoheit für sich, seit den 1990er Jahren, halt. Wo bleiben dann die schon seit diesen Jahren erkannten, qualitativen Veränderungen, z.B. nur im Bereich des öffentlich-rechtlichen Fernsehens? Wann wird endlich Einhalt geboten gegen das beleidigende, i.w. steuerlich getragene/ geförderte Quotenfernsehen? Seit Jahrzehnten ist doch alles bekannt, oder? Und es wird flott diskutiert und diskutiert und diskutiert … Nur Hebborn und Lynen deuten überhaupt das öffentlich-rechtliche Quotenproblem an. Herr Wagner verschweigt es, wohl gern. Oder möchte er gar etwa das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen als „soziokulturelles Zentrum“ verstanden wissen? Was ist das denn? Ähnliches gäbe es zuhauf zur deutschen Filmförderung (Andeutung einzig nur im Carl Beitrag) und ihren systemisch wehrsamen Verquickungen mit dem öffentlichen TV-System zu sagen.
Es ist ferner nicht mit anzusehen, wie Herr Wagner scheinkritisch über „die Postmoderne“ schwadroniert. Auch nicht zu ertragen ist, wie das Ehrenamt bei Herrn Wagner (natürlich) zu hochgelobten Ehren kommt. Eine demokratische Gesellschaft, die nicht nur scheinbar etwas auf ihre Kultur hält, braucht gerechte Entlohnung, auch für kulturelle Arbeit. Genau, wie in der Wirtschaft, wir brauchen endlich kein Präkariat, keine Praktikumsgesellschaft, keine Billiglöhne und kein Ehrenamt mehr.
Die Fronten sind, klar nachvollziehbar, verhärtet, die institutionalisierte öffentliche Kulturpolitik verschließt sich wie eine ins Mark getroffene beleidigte Leberwurst dem erforderlichen intensiven Dialog, hoffentlich nur vorerst. Sie hat ihre Pfründen zu verteidigen. Natürlich ist auch vonseiten der Infarktdoktoren abzurüsten und deutlich nachzubessern. Rantasa fordert verständlicherweise, den „Kulturinfarkt“ noch einmal und differenzierter zu schreiben, in konstruktivem Sinne. Als außenstehender Österreicher gut gesagt.
Nächste Gelegenheiten zu einem echten, endlich offenen Dialog gäbe es ausreichend, z.B. anlässlich der Mitgliederversammlung der KuPoGe im September 2012 in Berlin und dann auf dem kulturpolitischen Bundeskongress 2013. Also doch noch Hoffnung?
Vielen Dank für diesen sehr kritisch-distanzierten Kommentar. Das eingeforderte „konstruktive“ Buch gibt es allerdings längs: 2007 erschienen unter dem Titel „Der exzellente Kulturbetrieb“. Autor: Armin Klein. Mittlerweile 3 Auflagen, sehr erfreuliche Kritiken. Wirkung auf den real existierenden Kulturbetrieb allerdings: nahe null! Das ist leider die Realität des angeblich so innovationsfreudigen öffentlichen Kulturbetriebs. Und da ist es dann auch einfacher, die Autoren des „Kulturinfarkts“ als ahnungslose Tölpel zu diffamieren und einfach weiter zu machen wie bisher. Veränderung würde nämlich Kraft und Anstrengung kosten!