DIE GROSSE REDUKTION

Werner Schwarzanger

Peter Watson: „Das Zeitlalter des Nichts – Eine Ideen- und Kulturgeschichte von Friedrich Nietzsche bis Richard Dawkins“

„In der Endlosschleife des ,Kaufens und uns selbst Verkaufens‘“ ist uns „der Sinn im weitesten Sinn“ overnewsed schließlich verlorengegangen. Peter Watsons 700-Seiten-Opus „Das Zeitlalter des Nichts“ lädt zu einer Wanderung in den weiten Horizont der atheistischen Denkansätze ein, die seit Nietzsches Wort „Gott ist tot“ diesen Befund entfalten.

In seiner „Gedenkrede an Nietzsches Bahre“ erklärt Kurt Breysig Nietzsche 1900 zum „Führer zu einer neuen Zukunft der Menschheit“. Für Gottfried Benn hat dieser „Führer“ alles, worum es von nun an auf Erden zu gehen hat, definitiv formuliert: „Die ganze Psychoanalyse, der ganze Existenzialismus“ und „alles Weitere“ ist Exegese. Nietzsche hat das Religiöse als solches als illusorisch verworfen. Aus dem flüchtigen irdischen Leben rücksichtslos um jeden Preis herauszuholen, was an Machtsteigerung drin ist: dieses „harte Tun“ (Oswald Spengler) müsse sich jenseits der seit Gottes Tod hinfälliger Dichotomie „Gut und Böse“ endlich von allen Skrupeln angesichts der Folgen befreien. Selbst Rudolf Steiner – auch er damals von Nietzsche berauscht – verkündet 1893, dass das Phantom „Gott“ „nur der in ein Jenseits versetzte Mensch“ sei, der der dionysischen Machtentfaltung auf Erden nicht länger im Weg stehen dürfe. Die theologische Deutung des Menschen durch die biopsychologische ersetzend, erklärt Freud Religion zur „universellen Zwangsneurose“ und Gläubige generell zu verklemmten Infantilen, die den Verdrängungsmechanismus wider die allesbeherrschende Libido zu zeremonialisieren und sich das Leben schuldbewusst auf „Gott“ hin schwerzumachen versuchten.

Seitdem hagelt es Schlag auf Schlag. Lenin erklärt Religion zur „widerlichsten Seuche“, James Joyce jedweden Idealismus zum „Ruin des Menschen“. Und der Wiener Kreis der logischen Positivisten erklärt das naturwissenschaftlich Verifizierbare zur einzigen Wissensquelle und reduziert die altertümliche „Philosophie“ auf logische Analyse im Dienst der Wissenschaft. Für die futuristischen Maschinenanbeter um Marinetti ist die totale Durchmechanisierung der Gesellschaft das „Allheilmittel gegen jegliche sozialen Übel“. Die „Avantguerre“ des technisch transformierten gesellschaftsmaschinischen Neuen Menschen werde in ungeahnte Erfahrungsmöglichkeiten der Machtentfaltung vorstoßen. In ihrem „Futuristischen Manifest der Wollust“ erklärt die Tanztheoretikerin Valentine de Saint-Point 1913 die Begierde „zur größten Befreiung des Geistes“ und die Bestie zum Vorbild einer höheren Menschheit. Wenn erst einmal der Bann des „Glaubens an den Glauben“, diese „Magd der Gruppenbildung, des Tribalismus und des Nationalismus“, gebrochen ist, so bestätigen später militante Darwinisten wie Daniel Dennett oder Richard Dawkins, werde sich der Sozialdarwinismus als der „Weg des Heils“ erweisen. Dem sekundieren die antiessentialistischen Pragmatisten in vorauseilendem Gehorsam seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, indem sie „Wahrheit“ zum Etikett für alles erklären, was sich als überlebenszweckmäßig und anpassungssteigernd erweist: Wir Versuchskaninchen in der puzzle box of survival haben nur eins: herauszufinden, wie die box sich aufschließen lässt, um ans Futter zu kommen. Seitdem darf die Suche nach einem höheren Sinn für erledigt gelten. Kurz vor der Jahrtausendwende erklärt der Soziobiologe Edward O. Wilson dann die allseitige Wissensvernetzung zu einem symbiotischen Superhirn zum „gewaltigsten Projekt“ aller Zeiten. Dass „das Vorurteil ,Mensch‘“ sich in den Übermenschen überwinden muss, steht seit Nietzsche fest. Dass dieser Übermensch aber mitnichten der zu steigernde Einzelne ist, sondern ein neuerdings schlicht „Singularität“ genannter „synthetischer Kolletivgeist“, der die „Zerstückelung in Individuen“ aufheben wird, indem er sich durch unbegrenzten Zugang zum globalen Wissen permanent perfektionierend uns Alle „denkt und nutzt“, das träumten schon H.G. Wells und George Edward Moore voraus, der sich von diesem „höchsten Souverän“, diesem „Führer in mir“ „die Öffnung eines neuen Himmels über einer neuen Erde“ versprach. Für ihn war der unverblümte Egoismus dem gutmenschelnden Altruismus mit seiner penetranten Wohltuerei überlegen. In diesem Sinn erklärt Matt Ridley, nebenbei Vorstandsvorsitzender einer Bank, den staatlich gänzlich zu deregulierenden Freihandel zur Religion der Zukunft.

In diesem Geist mutiert die von jeder Bedeutung emanzipierte Kunst zur performativen Feier des witzigen Nonsens. Jackson Pollock, die Ikone des Action Painting, ertantze seine Bilder, indem er auf der mit Farbe beschütteten Leinwand herumlief. In der Fremde der konsumistischen Ersatzwelt haben wir die dichterische Sprache so weit verloren, dass die Ersetzung des eigentlich zarten Gedichtes durch das smarte Knallgenicht keinem mehr auffällt.

Doch von den zweckrational „abgepufferten“ modernen Individuen gänzlich vergessen bleibt dennoch – das Sein. „Etwas so Gewaltiges“ ist es für Thomas Nagel, dass die Physik diesen Schatz nicht heben kann. Mit seinem philosophischen Kollegen Bernard Williams darin einig, dass wir dem „tranzendenten Impuls“ widerstehen müssen, um die Welt voraussetzungslos physikalisch beschreiben zu können, durchschaut Nagel den Darwinismus als moralisch sicher falsch: verschütte er doch unsere Prädisposition für das Geheimnis des Seins endgültig. „Für mich“, schrieb George Bernard Shaw 1919 an Tolstoi, „existiert Gott noch nicht“. Während „der aufgeklärten Vernunft die Bilder vom sittlichen Ganzen entgleiten“, gilt es, so Habermas, „ein Bewusstsein von dem, was fehlt“, wachzuhalten. Wir nähern uns „der Stunde null der Menschheit“, sagte Albert Camus in den Sechziger Jahren. Dieser Nullpunkt könnte – so vermutete George Steiner – der „Samstag zwischen Karfreitag und Ostersonntag“ sein, wo der Tod Gottes sich in seine Auferstehung kehrt.

Peter Watson: „Das Zeitalter des Nichts – Eine Ideen- und Kulturgeschichte von Friedrich Nietzsche bis Richard Dawkins“
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 768 Seiten,
15 x 22,7 cm
ISBN: 978-3-570-10223-7
Verlag: C. Bertelsmann
Preis: 23,99 EUR