Die entführte „Entführung“

Ein echter Theatercoup: Das Regieduo Parditka/Szemerédy verlegt in Coburg Mozarts Türkenoper vom Serail in ein Internat.

Von Monika Beer
Die „Martern aller Arten“ finden natürlich im Turnsaal statt, mit Konstanze (links: Ana Cvetkovic-Stojnic), Blonde (Anna Gütter) an den Ringen und Turnlehrer Osmin (mittig: Michael Lion). Foto: Andrea Kremper

Die „Martern aller Arten“ finden natürlich im Turnsaal statt, mit Konstanze (links: Ana Cvetkovic-Stojnic), Blonde (Anna Gütter) an den Ringen und Turnlehrer Osmin (mittig: Michael Lion). Foto: Andrea Kremper

Ein Regietheaterabend in der Oper, der glücklich macht? Leider eine Seltenheit, aber es gibt ihn. Aktuell zum Beispiel im Landestheater Coburg. Dort hat das ungarische Regieteam, das 2013 für sein Debüt mit Puccinis „Madama Butterfly“ gleich für den renommierten Theaterpreis „Faust“ nominiert wurde, seine inzwischen dritte – und hinreißende – Inszenierung erarbeitet: Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ wurde von Magdolna Parditka und Alexandra Szemerédy so überzeugend aus dem Serail in ein Internat entführt, dass man sich fragt, warum nicht längst jemand auf die Idee gekommen ist.

Nicht, dass ein Klassenzimmer auf der Opernbühne was Neues wäre! Schließlich ließ schon 2008 Peter Konwitschny seine Hamburger „Lohengrin“-Inszenierung auf, in und unter Schulbänken spielen. Nur wirkte sein Kunstgriff nicht ganz so schlüssig wie jetzt der seiner jungen Kolleginnen in Coburg. Was unmittelbar mit dem Werk zu tun hat. Denn das mal ängstliche, mal feurige Herzklopfen, der Liebesjubel und die suizidale Traurigkeit der Hauptfiguren Konstanze und Belmonte legen einfach nahe, dass die beiden blutjung sind, sein müssen.

Nicht nur sie. Auch Blonde und Pedrillo sind Pennäler, selbst Bassa Selim ist hier als Schulleiter so schlagend attraktiv und jung, dass er für Konstanze jederzeit in Frage kommt. Die stringente Verortung der vermeintlichen Türkenoper in ein internationales Schullandheim funktioniert dank entsprechender Eingriffe und Umstellungen. Die Originaldialoge von Johann Stephanie frei nach Bretzners Operette „Bellmont und Constanze“ ersetzen die noch freieren Regisseurinnen durch neu eingerichtete Sprechtexte mit Zitaten aus Johann Wolfgang von Goethes „West-östlichem Divan“. Das hebt die Sprachqualität und das inhaltliche Niveau spürbar an und bringt elegant den Orient ein, ohne bei den gegebenen verbalen Ausfällen Osmins gleich an den IS denken zu müssen.

Das Geschehen vor dem Internatsgebäude, in Klassenzimmern und Aula, Schlafsälen, Turnsaal sowie im Toiletten- und Duschraum (auch die Ausstattung stammt vom Regieduo) spiegelt die herkömmliche Handlung der „Entführung“ sehr frei und ungemein unterhaltsam, trifft aber umgekehrt sehr genau den Kern der Figuren, nämlich deren seelische Befindlichkeit und Konflikte. Es geht um den Widerstreit von Gefühlen, um die Freiheit und Unfreiheit von Gefühlen, beispielhaft vorgeführt an jungen Menschen, die fast davon zerrissen werden oder es eher pragmatisch angehen.

Was in Coburg auch deshalb glückt, weil die Besetzung stimmig ist. Schon der von Lorenzo Da Rio einstudierte Chor ist eine Fahrt ins Landestheater wert, denn praktisch jeder kann unter diesen spielfreudigen, szenisch präzise und individuell geführten Gymnasiasten und Lehrern sich selbst und die eigene Schulzeit wiederfinden. Bei der besuchten zweiten Vorstellung war Ana Cvetkovic-Stojnic als Konstanze sängerdarstellerisch der unangefochtene Stern des Abends, gefolgt von Anna Gütters resolut-frecher Blonde und dem eher hasenherzigen Pedrillo von Dirk Mestmacher. Der Goethe zitierende Bassa Selim von Frederik Leberle ist ein idealer Lehrertyp zum Schwärmen.

Osmin und Belmonte sind alternierend besetzt: Während Michael Lion als ruppiger Pedell und taffer Turnlehrer in fast jeder Hinsicht überzeugte und kleinlaut nur bei den alleruntersten Basstönen wurde, wirkte José Manuel darstellerisch und optisch als jugendlicher Liebhaber zwar perfekt, blieb der Tenorpartie stimmlich aber einiges schuldig. Musikalisch ist die von Anna-Sophie Brüning geleitete Aufführung insgesamt noch nicht ganz auf Augenhöhe mit der brillanten Inszenierung. Aber die Dirigentin und das Philharmonische Orchester haben das Zeug dazu, in den weiteren neun Vorstellungen bis Mitte Juni eine „Entführung“ hinzulegen, der man anmerkt, dass von den „gewaltig viel Noten“, wie Kaiser Joseph II. nach der Uraufführung des Auftragswerks 1782 angemerkt haben soll, keine einzige zu viel ist.

Besuchte zweite Vorstellung am 25. März, weitere Aufführungen im Landestheater Coburg am 2., 10., 12., 19. und 23. April, am 17., 22. und 26. Mai sowie am 17. Juni 2015. Karten gibt es telefonisch unter 09621/898989 sowie online auf der Homepage des Landestheaters.