Lena und der lesende Klosterschüler

Von Magdalena Schubert

Endlich war es Sommer! Eine träge Hitze legte sich über das Land und seine Bewohner und veränderte ihren alltäglichen Rhythmus. Nahezu jeden durchflutete dieses glückseligmachende Ferien- und Urlaubsgefühl und die älteren Leute hatten wieder den Geruch ihrer Kindheit und Jugend in der Nase. Den Geruch von klaren Badeseen und nussigem Sonnenöl, den unverwechselbaren Geruch von heißem Asphalt und duftendem Heu auf den gemähten Wiesen. Wer nur irgendwie konnte, streifte sich die Schuhe von den Füßen und lief barfuß über sandige und moosige Wege, fühlte die glatten Kieselsteine und die staubige Erde unter den bloßen Fußsohlen und die sengende Sonne auf seinen nackten Armen und Beinen. Die hektischen Aktivitäten erlahmten, in den Familien, in den Behörden und Betrieben und in der Politik und in den Medien gähnte das alljährliche Sommerloch. Die Menschen legten sich lieber in eine gestreifte Hängematte oder auf eine flauschige Decke ins Gras und zum Abkühlen ging man ins Wasser, in die Eisdiele oder in einen lauschigen Biergarten. Der Sommer schien die Schattenseiten der Menschen ein wenig zu kaschieren, er hellte die Gemüter auf und zauberte ein sonniges Lächeln auf ihre Gesichter.

Auch Lena konnte sich dieser Magie nicht völlig entziehen. Trotz der meditativen Verlangsamung des tagtäglichen Treibens spürte sie das Leben intensiver in den Adern pulsieren. Die dunkle Melancholie in ihrem Kopf und in ihrer Seele vermischte sich mit den bunten Farben des Sommers: mit dem tiefen Blau des Himmels und dem zarten Weiß der Schäfchenwolken, mit dem satten, changierenden Grün der Bäume und Büsche und der üppigen Blüten- und Blumenpracht in den Gärten und Hainen. Sie atmete bewusster, sie sog das weiche Licht und die warmen Farben ein und träumte mit offenen Augen. Ihre diffusen Ängste und ihre – vor allem des Nachts – randalierenden Gedanken schwiegen, wichen einer sanften Gelassenheit und ließen behutsam Hoffnung und Zuversicht in ihr wachsen.

Und als sich eines Tages die Hitze besonders schwer und schwül über die kleine Gemeinde legte, radelte sie in den Nachbarsort. Eigentlich hatte sie sich die dortige Eisdiele zum Ziel gesetzt, doch seltsamerweise lenkte sie ihre Schritte zum verlassenen Kirchenportal und betrat am helllichten Nachmittag das dämmrig kühle Kirchenschiff. Und wieder hatte sie den Geruch von Kindheit in der Nase. Von Kerzen und Weihrauch und leicht modrigem Holz und im Ohr das perlende Brausen von jubelnden Orgelklängen. Sie stand eine Weile vollkommen still und bewegungslos. Wie lange war es her? Wann hatte sie das letzte Mal eine Kirche aufgesucht? Sie fühlte sich fremd hier und gleichzeitig heimisch.

Dann wurde sie sich der Anwesenheit der Figur bewusst. Sie saß klein auf einem niedrigen Sockel aus Metall, zu Füßen des Pfeilers schräg gegenüber. Sie war aus Holz geschnitzt, das nicht hell und nicht dunkel war, sondern einfach braun. Lena näherte sich ihr. Die Figur stellte einen jungen Mann dar, der in einem Buch las, das auf seinen Knien lag. Der junge Mann trug ein langes Gewand, ein Mönchsgewand, nein, ein Gewand, das noch einfacher war als das eines Mönchs: einen langen Kittel. Unter dem Kittel kamen seine nackten Füße hervor. Seine beiden Arme hingen herab. Sein Gesicht war fast ein reines Oval und die Augen schienen auf den ersten Blick geschlossen, aber sie waren es nicht, der junge Mann schlief nicht, er hatte nur die Angewohnheit, die Augendeckel fast zu schließen, während er las. Das sind ja wir, dachte Lena. Sie beugte sich zu dem jungen Mann herab und sah ihm ins Gesicht. Genauso sind wir im großen Studiersaal des strengen Klosterinternats gesessen, in unserer schmucklosen grauen klösterlichen Einheitstracht, und genauso haben wir gelesen, gelesen, gelesen, So versunken wie er. Er trägt unser Gesicht, dachte sie, das Gesicht unserer Jugend, das Gesicht der Jugend, die ausgewählt ist, die Texte zu lesen, auf die es ankommt. Die Texte der Bibel. Aber dann bemerkte sie auf einmal, dass der junge Mann ganz anders war. Er war nicht an die Lektüre hingegeben. Er las ganz einfach. Er las aufmerksam. Er las genau. Er las sogar in höchster Konzentration. Aber er las kritisch. Er sah aus, als wisse er in jedem Moment, was er da lese. Er sieht aus wie einer, der jederzeit das Buch zuklappen kann und aufstehen, um etwas ganz anderes zu tun, dachte Lena. Kann man das? Ein junger Mönch sein und sich nicht von den Texten überwältigen lassen? Die Kutte tragen und trotzdem frei bleiben? Nach den Regeln leben ohne den Geist zu binden? Lena richtete sich auf. Sie war verwirrt – und zugleich fasziniert. Sie hatte damals, vor vielen Jahren, das Kloster verlassen, sie wollte frei bleiben, ihren Geist nicht an Ketten legen lassen, sich nicht Regeln unterwerfen, die sie nicht begreifen konnte. Aber sie war nicht wirklich frei gewesen. Ihr Unterbewusstsein hatte ihr gleichsam die Regeln weiterhin diktiert, sie in geistigem Gewahrsam gehalten und ihr stete Schuldgefühle eingeimpft. Sie konnte dieses enge Korsett nie völlig abstreifen, die drohende Höllenqual nie gänzlich aus ihrem Bewusstsein verbannen. Plötzlich lachte sie laut auf. So alt musste ich werden, um endlich das Wesentliche zu erkennen, um endlich die Fesseln der Vergangenheit zu lösen. Und sie eilte hinaus in den hellen Sommertag und spürte aufs Neue das heiße pulsierende Leben in ihrem schlanken, noch immer attraktiven Körper.

Die Geschichte zur Geschichte

Es gibt manchmal Zufälle im Leben, die man im Nachhinein fast als kleines Wunder bezeichnen kann. Im Juni schrieb ich meine Obdachlosengeschichte. Anfang Juli inspirierten mich eine Radtour und der Anblick einer wunderschönen lesenden Frau vor einer kleinen Kapelle zu meiner zweiten Erzählung. Und dann hatte ich bereits die vage Idee einer Trilogie im Kopf, ohne konkrete Vorstellung. An meinem Namenstag, dem 22. Juli, fiel mir zufällig das noch ungelesene Buch von Alfred Andersch – Sansibar oder der letzte Grund – in die Hände, und plötzlich wusste ich intuitiv, dass ich den Stoff für die dritte Kurzgeschichte gefunden hatte. Ich wusste nur nicht, wie ich das bewerkstelligen konnte, den Text eines anderen Autors in eine meiner Geschichten zu integrieren. Und schließlich las ich folgendes in Wikipedia: „Andersch verließ öfter die Pfade der traditionellen Erzählweise und versuchte sich an der Montage von dokumentarischem Material, Zitaten oder erzählerischen Versatzstücken.“ Er verwendete Textpassagen anderer Schriftsteller! Und somit hatte ich meine Legitimation! Am Morgen des 25. Juli spuckte mein scheinbar unablässig arbeitendes Unterbewusstsein die dritte Erzählung aus.

Biographische Anmerkungen

Magdalena Schubert – Jahrgang 1955 und gebürtig aus der Oberpfalz – hat im niederbayerischen Mallersdorf die Klosterschule der Franziskanerinnen besucht. Dort, so erzählt die so bezaubernd-hinreißende wie quicklebendige Schubert im munteren Gespräch funkelnden Auges, habe durch ihren „wunderbaren Deutsch- und Literatur-Unterricht und durch die Hinführung zu wirklich guten Büchern und Autoren“ Schwester Radegund Schuberts Begeisterung und Passion für das Schreiben, für die Literatur befeuert. Und doch habe sie, Schubert, die ersten Texte erst dann verfasst, als sie, in Landshut lebend, Kinder hatte. Als die beiden Mädchen noch klein waren, wurde Kasperltheater gespielt. „Dafür schrieb ich dann einige Stücke, darüber hinaus auch kurze Geschichten und Märchen“, erzählt die Autorin. Das Glück war ihr, wie nur wenigen Stellern der Schrift, hold, und der Don Bosco Verlag brachte ihren Debütband heraus. Inzwischen sind in einer ruhigen, nach einem großen deutschsprachigen Autoren geheißenen Straße in Eltmann nicht wenige Reflexionen, Kurzgeschichten, Gedichte entstanden, die ihren Ausgangspunkt oft in einem – vorangestellten – Zitat, einer Passage aus einem Bericht, einem Essay, einem persönlichen Erlebnis oder in der Auseinandersetzung mit und der kreativen Weiterführung von Kunstwerken (in Lena und der lesende Klosterschüler ist dies eine hölzerne Figur von Ernst Barlach) haben.

Da Schriftstellerinnen und Autoren, selbst wenn sie verlegt werden, in den seltesten Fällen vom Schreiben auch zu leben vermögen, sei an dieser Stelle ausnahmsweise der Hinweis gestattet, dass Schubert für ihr gemütliches Haus (Garage, Garten, Balkon und Terrasse inklusive) in Eltmann einen Käufer sucht. Wer Kontakt aufnehmen möchte, kann das über die Bamberger Onlinezeitung tun.

2 Gedanken zu „Lena und der lesende Klosterschüler

  1. Magdalena Schubert ist eine literarische Impressionistin. Ihre Kurzgeschichten haben die atmosphärische Dichte eines Gemäldes. Sie schafft mit Worten Empfindungen, die ganz tief im Herzen berühren. Ihr Schatz an treffenden Formulierungen ist unerschöpflich. Mögen ihre Texte witzig bis amüsant sein oder anrührend und nachdenklich machen. Immer trifft sie den richtigen Ton. Immer ist ein Meisterwerk. Es ist unverständlich, dass noch kein Verlag bereit war, ihre Kurzgeschichten zu drucken. Dies zeigt einmal mehr, dass deutsche Verlage mit deutschen Autoren nichts am Hut haben. Sonst würden sie sich die Mühe machen, die Goldkörner aus den Bergen literarischen Sandes heraus zu picken, die täglich auf ihren Schreibtischen landen. Und Magdalena Schubert ist ein Diamant.

  2. Seit Jahren verfolge ich Lenas literarische Entwicklung mit einem Staunen über ihre Phantasie, ihre schöpferische Ausdruckskraft.
    Ihre Texte, die oft spontanen Eindrücken entspringen, berühren mich, regen mich an zur eigenen Kreativität.
    Ihr gelingt es, Szenen des Alltags einringlich und dicht wiederzugeben und sie auf eine höhere Ebene zu stellen.
    Ich wünsche Lena, dass sie mit Ihren Texten sich selbst viel Freude und uns Lesern wachsende Begeisterung schenken wird…

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