Urbane Plaudereien – Bildungsstadt Bamberg, fünfter Teil

Peter von Liebenau

Wir leben im Zeitalter der Verwirrung, schrieb H.G. Wells zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber wir wollen uns nicht verwirren lassen. Deshalb fragen wir uns: Wonach sollen wir uns also orientieren, wenn wir Bamberger, in unserer Stadt der Bildung, geistig geordnet höher streben wollen? Auf welcher Grundlage sollen wir uns systematisch bilden, und woraufhin sollen wir uns eigentlich bilden?

Diese Frage stellt sich bezeichnenderweise, in der Tat. Weder die Vorgabe eines Ausgangspunkts noch die einer Zielsetzung für Bildung scheint heute selbstverständlich gegeben. Ein früher vielleicht einmal existierender geistiger Rahmen scheint nicht mehr vorhanden, ein Rahmen für alle, dem jeder im Kern zustimmte, der – bei allen größeren oder kleineren Auseinandersetzungen – als gemeinsame Grundlage gelten könnte. Wir haben heute stattdessen einen „Weltanschauungsmarkt“, wie öfter gesagt wird, oder, noch besser, die von dem ehemals Bamberger Soziologen Peter Gross so bezeichnete „Multioptionsgesellschaft“: Die einen „interessieren sich“ für den Sport, für sie ist Fußball, Schwimmen, Tennis oder Basketball ihr Leben, die anderen engagieren sich noch in der Kirche, wieder andere sehen Rock-, Pop-, Jazz- oder klassische Musik als Sinn ihres Daseins, die Technik- oder Computerwelt nicht zu vergessen, eine weitere Gruppe geht im Familienleben auf, andere im Autofahren, wieder andere im Reisen oder in der Kunst und der Kunstbetrachtung und sicherlich viele andere in der Bildung, speziell in der Wissenschaft oder in der Politik. Neuerdings ist das Kochen oder das Zuschauen bei demselben fast zu einer Art „Weltanschauung“ geworden. Aber das sind alles bloße „Tätigkeiten“ oder gar Hobbys, für die betreffenden Personen manchmal durchaus Sinn spendend – aber es sind keine gemeinsamen geistigen Grundlagen, die eine gemeinsame Basis für eine Kultur, eine „Zivilisation“ und ihre Bildung sein könnten. Jeder hat seine Meinung, seine Weltanschauung, „das muss jeder für sich selbst entscheiden“ – das ist die gängigste Redewendung bei ethischen Fragen.

Eine gemeinsame weltanschauliche Basis ist kaum mehr vorhanden. Es gibt da gleichsam nur „Fangruppen“. Dementsprechend fehlt ein gemeinsames Ziel für die Bildung, das es aber geben müsste, wenn es echte Bildung wäre; denn Bildung hängt doch wohl stark mit Kommunikation zusammen. Was aber tun, wenn das gegenseitige Verstehen fehlt? Diese Tatsache hat schon Goethes Werther („Wie denn auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht“) beklagt.

In der modernen Welt fehlen das Verstehen sowie die inneren und äußeren Bindungen. Literarisch grandios formuliert hat diesen Zusammenhang Eduard von Keyserling in seinem kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschienen Roman „Wellen“. Dort sagt Doralice, eine der Hauptfiguren, im Gespräch mit ihrem neuen Ehemann: „,Du hast ja ganz recht‘, meinte Doralice, um ihn zu versöhnen, ‚vielleicht macht das müde, wenn nichts einen bindet.‘ […] Keiner sprach ein Wort, und alle, auch die Kinder, schauten ernst und geduldig gerade vor sich hin. Wenn das Wetterleuchten drüben eilig den Horizont erleuchtete, wies Wardein stumm mit der Pfeife zu ihm hinüber. Unter am Strande gingen ganz stille Liebespaare hin, sie gingen mit herabhängenden Armen nebeneinander her, träge die Füße über den Sand ziehend. Was sollten sie sich sagen, hier hatte immer seit Menschengedenken das Meer das Wort und wozu ihm unnütz dreinreden.“

Es fehlt an Kommunikation, Bindung, Orientierung – mit einer Ausnahme: Bamberg. In Bamberg gibt es das alles noch, zumindest im Schlenkerla, im Greifenklau, Spezi, Fäßla, Weißbierhaus, Mahr, Keesmann, Klosterbräu, einer anderen Brauereigaststätte oder in manchen Cafés bzw. Weinstuben … Man sieht, ich will gar nicht enden. Selbst wenn man einsam oder allein ist oder sich so fühlt, kann man sich immer noch in eine Gaststätte setzen und findet, wenn man sich nur ein wenig öffnet und auf andere zugehen kann, Anschluss.

Einstmals saßen wir im Schlenkerla, es war schon spät, nur noch wenige Gäste saßen in der dunklen Stube mit dem gemütlichen Kachelofen. Wir waren recht lustig, am Nebentisch saß eine junge Frau, allein. Wir sprachen sie einfach an und stellten fest, dass es sich um eine junge adelige Römerin handle, die seit einer Woche in der Staatsbibliothek Forschungen betreibe – ganz so wie die Micòl in dem Roman Die Gärten der Finzi-Contini von Giorgio Bassani, einem der großartigsten Liebesromane der Weltliteratur.

Über Bamberg und Umgebung brauchten wir ihr nicht mehr viel zu erzählen; sie hatte in dieser Hinsicht schon sehr viel Bildung erhalten, vor allem durch eine ganze Reihe von Theologie-Professoren, denen sie in der Staatsbibliothek begegnet war. Die hatten sich von Anfang an auf sie gestürzt und sie mit dem Auto in alle „heiligen Länder“ der Umgebung gefahren, nach Schloss Banz, Vierzehnheiligen, Pommersfelden und Schwarzenberg. Eine gebildete, adelige Römerin in Bamberg! Das passte nur allzu gut.

Auch wir nahmen sie zu uns nach Hause mit und luden sie mehrfach ein. Sie erzählte uns, dass bald ihr Freund komme – den wir später noch kennenlernen sollten – und sie überlegte sich gerade, ob sie ihre Doktorarbeit fertig schreiben und an der Uni lehren oder ihn – seinem Antrag entsprechend – heiraten solle. Wir plädierten für die Doktorarbeit.

Hier geht niemand verloren. In Bamberg ist die Welt noch einheitlicher, vielleicht ist sie hier noch in Ordnung, wie manche sagen. Eine Orientierung sei noch da – leider? Eine zu enge Orientierungsvorgabe vielleicht?

Mit Bamberg, insbesondere den Gärten des Klosters Michelsberg – die ehemalige Brauerei ist dort leider nicht mehr vorhanden – haben wir, wie gesagt, eine begehbare Philosophie, einen unmittelbar sinnlich erfahrbaren geistigen Rahmen für unsere angestrebte Bildung.

Zum Beispiel die Terrassengärten: Sie sind nicht nur Architektur-Design, wie heutige Parks oder Gärten, sondern Ausdruck einer philosophischen Theologie. Sie wurden vor der Mitte des 18. Jahrhunderts unter Abt Anselm Geißendörfer angelegt, der ein sehr bewegtes, ja abenteuerliches Leben hatte und eigentlich aus dem üblichen Schema eines Klosterlebens ausgebrochen war.

Er war einen Verehrer der Allerheiligsten Dreifaltigkeit. Daher teilte der den Berg unterhalb der Klosteranlage in drei Teile: eine Streuobstwiese, die Kornelkirsch-Terrassen und einen Weingarten. Kulturlandschaft auf höchstem Niveau, locker gleichrangig mit den Terrassengärten von Sanssouci.

Die Klosterlandschaft transportiert den ideellen Rahmen, Orientierung für die Bildung. Wie ist es dazu gekommen? Wo liegen die Ursprünge dieses Rahmens?

Der Historiker Heinrich August Winkler spricht in diesem Zusammenhang nach wie vor von der Kulturgeschichte des „Westens“. Er beginnt mit dem Entstehen des Judentums aus den verschiedenen Kulturen und Religionen des östlichen Mittelmeerraums: Babylonier, Ägypter, Griechen und andere wirkten hier zusammen. Interessant: Schon die entstehende griechische Philosophie, ein eigener Schritt in der Kultur- und Bewusstseinsgeschichte der Menschheit, vergleichbar mit dem Fortschritt von der Jungsteinzeit in die Metallzeiten, schon diese Philosophie ging in das entstehende Judentum ein, erkennbar an den Weisheitsbüchern des Alten Testaments. Und aus diesem Grund konnten die großen genialen Philosophen des 19. Jahrhunderts, wie zum Beispiel Friedrich Nietzsche, der Religion und speziell dem Christentum, auch nichts anhaben; denn sie alle waren eben Philosophen, ebenfalls hervorgegangen aus der griechischen Philosophie und Verehrer derselben, insbesondere der Vorsokratiker, wie Nietzsche, einer der schärfsten Religionskritiker.

Aber das Judentum erwuchs aus einem noch relativ begrenzten geokulturellen Raum, aus dem es viele Mythen, religiöse Traditionen und Bilder adaptierte und uminterpretierte. Anders sah es mit dem Christentum aus: Es erwuchs aus dem Judentum, aber in der historisch ersten globalen geistigen Auseinandersetzung, nämlich im Römischen Reich, das den Bewohnern damals die Welt bedeutete. Man begann diese ursprünglich sehr knapp formulierte Lehre – eher ein Glaubensbekenntnis – immer mehr zu verteidigen und in „globalen“ und römisch-urbanen Diskursen weiterzuformen, und zwar bis zum heutigen Tag, auch in Bamberg.

Nur: In Bamberg wissen nur ganz wenige davon. Wer kennt schon das „Internationale Q-Projekt“? Mit diesem Forschungsprojekt war Bamberg bis zum Jahr 2000 zumindest weltweit führend in der Theologie und sehr urban orientiert. Man erforschte die ältesten Worte Jesu. Durch die Hallen der Theologischen Fakultät in der Innenstadt schritten Menschen, welche den Sound der originalen aramäischen Worte Jesu auf den Lippen trugen. Dagegen kann man diese Fantasy-Thriller von Zeitreisen in die Zeit Jesu völlig vergessen.

Auch wenn also die Welt in Bamberg noch in Ordnung ist: Die geistigen Hintergründe, auf die man zugreifen könnte, liegen oft abseits des öffentlichen Bewusstseins, trotz der weit über zehntausend Uni-Angehörigen und der sehr gut besuchten Hegelwochen, die unsere Urbanität alljährlich sehr steigern, wenn diese berühmten Philosophen kommen.

Wie wurde die globale geistige Auseinandersetzung nun seit dem Römischen Reich fortgesetzt? Die deutschen Kaiser wollten das Vorbild Roms in differenzierter und gewandelter Weise weitertragen. Insofern sind auch Kaiser Heinrich und Kaiserin Kunigunde weniger als historisch-politische Figuren bedeutsam; bei Winkler sind sie beispielsweise überhaupt nicht erwähnt. Aber das Bild, das Herrscherbild von Kaiser Heinrich findet sich in vielen Schulbüchern zum Fach Geschichte wieder. Es zeigt verschiedene imaginäre Gebäude um den Kaiser herum – man könnte auch sagen: Gedankengebäude – zwischen einem Himmlischen Jerusalem, dem Römischen Reich und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Heinrich gab einige Bücher mit Illustrationen in Auftrag,  die meist auf der Insel Reichenau im Bodensee geschrieben und gemalt wurden. Gebildete Bamberger wissen es: Diese Handschriften zählen inzwischen zum Weltdokumentenerbe der UNESCO, manche davon liegen in der Staatsbibliothek Bamberg. In einem Buch über die „Sternstunden der Kunst“ der Menschheitsgeschichte stehen diese Handschriften, die um das Jahr 1010 entstanden, neben solchen Werken wie den Pyramiden oder der Mona Lisa. Soll einer sagen, wir Bamberger seien nicht von weltweiter Bedeutung.

Das bedeutendste Buch dieser Provenienz, das sich in Bamberg befindet, ist die Bamberger Apokalypse, die, wie ich finde, das Ende der Menschheit wundersam verherrlicht. Selbst der Weltuntergang ist in Bamberg irgendwie in Ordnung, jedenfalls verschönert. Und wer sich schöne Drachenmotive für sein hässliches Auto oder für – inzwischen unmodern gewordene und unurbane – Tattoos sucht, der möge mal (im Buch, im Internet oder auf der CD) die Bamberger Apokalypse anschauen, dann hat er (oder sie) wenigstens Weltdokumentenerbe auf seiner Haut wiedergegeben und kann noch so einiges drüber erzählen, wenn er das Begleitmaterial gelesen hat. Macht sich gut, bei gewissen Anlässen der Entblößung, echt!

Bildung ist eben nie schlecht, oder?