Urbane Plaudereien – Bildungsstadt Bamberg, vierter Teil

Peter von Liebenau

Wir haben die Klosterlandschaft von Sankt Michael als Umgebung gewählt, um über die Bildung in Bamberg zu philosophieren; denn wir brauchten dafür einen Garten.

Es ist Sommer in der Stadt. Auf dem seit der Landesgartenschau neu eingerichteten Uferweg an der Regnitz, gegenüber der hoch aufragenden Klosteranlage und ihren Gärten, den berühmten Terrassengärten, auf diesem Uferweg wandelt eine Dame. Sie fällt uns auf; denn sie flaniert auf inspirierte und inspirierende Weise. Das Flanieren und Wandeln ist unserer Meinung nach etwas Urbanes, wie wir bereits mehrfach feststellten: Auf dem Land muss man immer schnell irgendwohin, um etwas zu erledigen, oder man wandert vielleicht. Das Spazierengehen, das Flanieren, das Philosophieren dabei und das Plaudern – das ist eher urban, und es steht auch einem Bade- bzw. Kurort gut an.

Die von uns beobachtete Dame wandelt auf dem Uferweg. Hinter ihr erhebt sich eine Reihe schöner Mietshäuser im Stil des Historismus am Schiffbauplatz mit blühenden Gärten davor, die das Ganze zu einer Art Klein-Amalfitana machen. So haben wir nun ein Klein-Venedig, eine kleine Toskana oberhalb von Wildensorg mit Blick auf Debring, und auch eine Idee zumindest von der schönsten Küste der Welt, der Amalfitana – freilich im Kleinen.

Aber das macht gar nichts. Auch andere europäische Städte haben ihr Klein-Venedig und vergleichen sich, insbesondere mit großen Stadt- oder Schlossanlagen, vor allem mit Versailles. Unser Lothar Franz von Schönborn wollte in Pommersfelden sein „Klein-Versailles“ haben. Und seinen venezianischen Palazzo erbaute der Bamberger Ignaz Tobias Böttinger um 1710 mit der heutigen Villa Concordia.

Nur die Amerikaner schossen übers Ziel hinaus, indem sie in Las Vegas versuchten, europäische Sehenswürdigkeiten – zum Beispiel Bellagio am Comer See – nachzubauen. Dahinter errichteten sie ein übergroßes Hotel, davor setzten sie eine Kopie des Eiffel-Turms, dazwischen bestrahlen sie des Nachts Wasserspiele – mit Blick auf die Wüste (!) in der Ferne. Das ist gar nicht urban, da sind sogar wir Bamberger urbaner, indem wir bescheidener sind. Wir haben kein Bellagio, aber wir haben unser Geyerswörth und unser Hotel Residenzschloss mit mickrigen Wasserspielen davor. Tolle Wasserspiele bietet seit einigen Jahren der Park von Schloss Seehof in unserem Vorort Memmelsdorf zur Genüge, obwohl die mehr oder weniger rekonstruiert sind (einiges steckte immerhin noch vor Ort in der Erde).

Und noch eines stellen wir bei dieser Gelegenheit fest: Bamberg wird immer mit anderen Städten verglichen, mehr als man sonst Städte mit anderen vergleicht – insbesondere mit ihren größeren Schwestern in der Nachbarschaft, mit Würzburg und Nürnberg. Wer schon in früheren Zeiten über Bamberg nachdachte, musste es immerfort vergleichen und die Stadt als eine Art „kleine Schwester“ der umliegenden, damals großartigeren Städte betrachten. Die fränkisch-mittelalterliche Altstadt Bambergs erschien früher sehr nett – aber bei weitem nicht so grandios wie die fränkisch-mittelalterliche Renaissance-Altstadt Nürnbergs. Man beschmunzelte das fast. Das Bamberger Barock galt eher als kleinteilig-romantisch – kein Vergleich zur berauschenden, barocken Stadtlandschaft Würzburgs, besonders mit der Residenz. Man beschmunzelte Bamberg wie man Würzburg beschmunzelt, wenn man zum Vergleich an Schönbrunn, Paris oder Versailles denkt.

Aber gut, wir lassen uns gern beschmunzeln. Immer noch besser als belächelt oder befürchtet werden. Vor Prag hatte Franz Kafka nicht wenig Angst. Und selbst Florenz kann etwas unheimlich sein.

Heute hat sich ein Wandel bei dieser Einschätzung ergeben: Bamberg kann immerhin gegenüber Würzburg und Nürnberg eine vom Krieg weitgehend verschonte Altstadt mit integriertem Gärtner- und Häckerviertel vorweisen. Neuerdings kam die Erkenntnis hinzu, dass im Südwesten ja noch ein unverbauter Übergang in die Natur, eine stadtnah erhaltene Klosterlandschaft aus dem Spätmittelalter, wie nirgends sonst, vorhanden ist. Ob beides auf Dauer vor der Stadtpolitik gerettet werden kann, steht freilich dahin.

Weitere Vergleiche Bambergs mit anderen Städten finden wir unter anderem bei einem Robert Hoffmann. Er schreibt über Salzburg: „Bis in die Gegenwart preisen Reiseführer und Stadtbeschreibungen die Stadt Salzburg als ‚deutsches Rom‘, ein Ehrentitel, auf den im Übrigen auch Bamberg, Erfurt, Fulda und vor allem München Anspruch erheben.“ Ähnlich schreibt Franz Prinz zu Sayn-Wittgenstein über Salzburg: „Mit Bamberg, Würzburg oder Passau hat es das Gemeinsame einer Residenz, den Charakter eines zugleich geistlichen wie weltlichen Fürstentums […] ist es eine gewaltige Bühne […].“ Und bei Johanna Baronin Herzogenberg heißt es: „Sie [die Stadt Krumau] gehört für mich zu den Städten, denen man sich immer wieder mit Herzklopfen nähert, weil sie bei jedem Besuch neue Schönheiten entdecken lassen. Salzburg ist so eine Stadt oder Bamberg […]“.

Nun aber Schluss mit den Vergleichen. Wir beobachten weiter die Dame auf dem Uferweg der Klein-Amalfitana, eine reizvoll gekleidete Dame mit Hut in weiten, hellen, im leichten Sommerwind fliegenden Kleidern – – –

Ab und zu blickt sie hinüber auf die Terrassengärten des Klosters – und scheint von deren Anblick außerordentlich angetan. Bisweilen erhebt sie lobpreisend die Arme. Ein unmittelbares Gefühl der Überwältigung ob der Schönheit der Szenerie wandelt sie an. Eine Hysterikerin? Eher nicht. Sie erinnert uns an eine andere Dame, eine junge Dame der Weltliteratur, nämlich an die Hauptfigur aus Gertrud von le Forts Erzählung „Die Opferflamme“, die eines Sonntagmorgens durch das sonnige, noch schlafende Rom wandelt. Wir gedenken vieler Sonntage der Kunst und Literatur: Summer in the City, Was für ein schöner Sonntag! (Jorge Semprun), Ein Sonntagnachmittag in Paris mit Friedrich Sieburg …

Mit einem Mal bleibt die beobachtete Dame stehen, wendet sich gegen die Klosteranlage hinüber – und beginnt zu singen, mit lauter, strahlender Stimme! Sie singt eine Opernarie, aus Verdi vielleicht, oder von Wagner …? Es muss Wagner sein, ja! Lohengrin … Sie singt die „Antwort“ der Elsa von Brabant im ersten Akt, zweite Szene aus Lohengrin!

„In lichter Waffen Scheine
ein Ritter nahte da,
so tugendlicher Reine
ich keinen noch ersah.
Ein golden Horn zu Hüften,
gelehnet auf sein Schwert,
so trat er aus den Lüften
zu mir, der Recke wert.
Mit züchtigem Gebaren
gab Tröstung er mir ein:
des Ritters will ich wahren,
er soll mein Streiter sein!“

Darf sie das? Einfach allein dastehen und in den blauen Sommerhimmel hinein, hin zu den Terrassengärten des Klosters Michelsberg aus dem Lohengrin singen?

Ja, allerdings darf sie das. Wir sind in einer Stadt mit einer gewissen Urbanität, da kann so etwas schon mal vorkommen! Weit entfernt, auf dem Land, im selbsternannten „Hochfranken“ vielleicht, würde man denken: „Die spinnt!“ und würde sie abholen lassen. Sicherlich hätte man das vor wenigen Jahren in Bamberg auch noch gemacht, man hätte die Nervenklinik angerufen und sie nach Sankt Getreu, eine ehemalige Probstei des Klosters Michelsberg und jetzige Nervenklinik, hinaufbefördert.

Heute dulden wir das. Und nachdem wir die Überraschung überwunden haben, freuen wir uns sogar darüber und genießen es. Klar, denken wir, Bamberg ist im Sommer wunderschön, da kann man unser Fränkisches Rom, unsere Sieben Hügel, nur ansingen, so wie es die Oberbayern mit ihren Jodlern tun. Wir jedoch befinden uns in der Nähe von Bayreuth, daher singen unsere Frauen Partien aus dem Lohengrin, zumal manche unserer Symphoniker – die Konzerthalle steht in der Nähe – im Bayreuther Festspielorchester mitwirken. Außerdem gab es im 19. Jahrhundert schon eine Gruppe von Wagnerianern, und es soll eine Art Auseinandersetzung gegeben haben zwischen den Wagnerianern und den Bamberger Brahms-Verehrerinnen und Verehrern, soviel ich weiß.

Die beobachtete Dame ist eine Touristin. Bei uns verkehren eben auch gebildete Touristinnen und Touristen – es könnten freilich mehr dieser Art innerhalb der Touristenmassen sein. Dann wäre die Innenstadt auf den üblichen Trampelpfaden nicht so verstopft.

Diese Dame stellt sich vor, sie singe die Elsa von Brabant aus dem Lohengrin – „die Oper der Opern“, wie gesagt wird. Noch zu Lebzeiten Wagners wurde diese Oper, nach Joachim Kaiser, in weit über achtzig Städten weltweit aufgeführt, auch auf kleinen Bühnen.

Die singende, gebildete Dame sah Bamberg als Stadt der Bildung, wo sie ihren musischen Anwandlungen freien Lauf lassen könne. Sie will sich durch ihren Gesang befreien von ihrem Enthusiasmus. Manchmal brauchen Gebildete solch eine Befreiung in ihrem überwältigenden Kunstgenuss. In den Uffizien in Florenz hat man extra eine Notaufnahme eingerichtet für Menschen, die im Begeisterungsrausch – angesichts der zahlreichen grandiosen Gemälde – zu hyperventilieren beginnen und ohnmächtig werden. Vielleicht kommt solch eine Notaufnahme auch mal auf unseren Domberg, wer weiß?

Die singende, sich befreiende Dame stellt sich vor, als Elsa von Brabant am Ufer der Schelde bei Antwerpen – der alte Bamberger Schiffbauplatz ist damit nur im Rahmen einer mythischen Vorzeit vergleichbar – zu stehen und Lohengrin komme auf seinem Schwan zu ihr dahergefahren. Im Ohr hatte sie noch die Lohengrin-Ouvertüre, die wundersamste Ouvertüre, die man sich vorstellen kann, am besten dirigiert von Herbert von Karajan. Jeder kann sie übers Internet abrufen und mit diesen ätherischen Klängen – viel besser als mit jeder sogenannten Kuschel-Musik – eine Geliebte, die er zu einem feinen Dinner eingeladen hat, verführen. In einer urbanen Universitätsstadt muss man schon mehr bieten als billige Kuschelweisen.

Die arme, angeklagte Elsa steht in der Oper der finsteren Ortrud-Gestalt gegenüber. Idiotischerweise hat die Nazi-Propaganda, diese immerfort blutende Wunde in der deutschen Geschichte, Lohengrin besonders benutzt, ohne dessen Scheitern am Ende mit bedacht zu haben (wie Joachim Kaiser richtig bemerkt).

„Nie sollst du mich befragen!“ heißt Lohengrin seine Elsa – warum, das wird letztlich nicht ganz klar. Hier muss unsere Philosophie enden. Erklärung Kaisers: Wagner ging es um die „Spannung zwischen Märchenhaft-Wunderbarem und Realistisch-Handfestem“, „Wunder und Wirklichkeit“ – – – Ist die Erscheinung des Michelsbergs, die Nähe des Kaiserdoms, der Dominikanerkirche, der Oberen Pfarre, der wunderschönen Natur, der Regnitz-Flusslandschaft nicht ebenfalls ein Wunder in der Wirklichkeit?

Bei all diesen geistig-musischen Elementen fehlt, um die Bildung komplett zu machen, noch das Politische. Da gibt es den erwähnten wunden Punkt. Und gerade, was die Nazis betrifft, ist Wagner bekanntlich eine problematische Gestalt. Joachim Kaiser, bekannter Feuilletonist der Süddeutschen Zeitung, will sich dieses Themas nicht verschließen. Er kann nur „mit Wagner leben“, weil nichts von dem Antisemitismus, der in seinen Schriften auftauche, in seinen Kunstwerken erscheine.

Hm. Diese Argumente wurden auch im Zusammenhang mit den Gemälden des Nazi-Malers Fritz Bayerlein aus Bamberg verwendet. Dieser bekannte sich noch nach dem Krieg zur NS-Ideologie; in seinen Gemälden ist davon freilich kaum etwas zu sehen, mit einer mir bekannten Ausnahme: Er malte auch propagandistisch „Die Autobahnen des Führers“. Damit sollte man sich wieder einmal öffentlich auseinandersetzen, wenn man eine Stadt der Bildung sein will.

Politisch unkorrekt sind zudem die Äußerungen Wagners zur Gestalt der Ortrud im Lohengrin: „Ihr Wesen ist die Politik. Ein politischer Mann ist widerlich, ein politisches Weib aber grauenhaft.“ Und: „Wir kennen in der Geschichte keine grausameren Erscheinungen, als politische Frauen.“ Denn: Ortrud „ist Reaktionärin, eine nur auf das Alte Bedachte und deshalb allem Neuern Feindgesinnte, und zwar im wüthendsten Sinne des Wortes: sie möchte die Welt und die Natur ausrotten, nur um ihren vermoderten Göttern wieder Leben zu schaffen.“ Eine merkwürdige Ambivalenz: Im Lohengrin kommt eigentlich Wagners revolutionäre Richtung zum Vorschein, der Revolutionär des Jahres 1848 – in dem Bamberg eine herausragende Rolle spielte –, was ihn veranlasst, das Politische des Mannes und vor allem das der Frau ins finsterste Licht zu rücken.

Mythos, Märchenhaftes, Kunst, Religion, Götter, Welt, Ideologie, Politik, Realität, Wissenschaft – wie soll man sich da noch zurechtfinden? Was können wir als geistigen Hintergrund für eine liberale, weltoffene, aufgeklärte, fortschrittliche und politische Bildung in Bamberg wählen? Diese Frage stellt sich doch nun, und wir müssen sie angehen, sonst fallen wir in die seltsamste Verwirrung – und das wollen Sie doch nicht, oder?