Urbane Plaudereien – Bildungsstadt Bamberg, zweiter Teil

Peter von Liebenau

In der ersten Bildungs-Plauderei erinnerten wir uns an die Schüler-Rekrutierungsfahrten des ersten Höchstadter Rex bei den Bauernfamilien im Aischgrund, im ehemaligen Hochstift Bamberg. Mancher Bauer ließ sich nur schwer überreden, den Sohn aufs Gymnasium zu schicken; einer, aus einem Seitental der Aisch, also schon fast im Jenseits, war ganz dagegen, obwohl Lehrer, Pfarrer und Rex einhellig begutachtet hatten, dass der Sohnemann unbedingt auf Gymnasium müsse.

Dieser geballten Autorität konnte der Vater auf Dauer nicht widerstehen. Immerhin erreichte er in Verhandlungen, dass der Sohn, wenn er aufs Gymnasium gehe, nicht verpflichtet werde, Hausaufgaben zu machen; denn am Nachmittag habe er Mist zu fahren.

So fuhr er denn alltäglich Mist – und was soll man sagen? Jahre später machte er das beste Abitur Bayerns seines Jahrgangs. Und den späteren Erhebungen der Sprachforscher von der nahen Uni Erlangen einen Strich durch die Rechnung. Wollten sie doch die Theorie vom „elaborated and restricted code“ Basil Bernsteins beweisen. Man war in den 1970er Jahren der Überzeugung, Begabung – so nannte man das noch – sein durch die Gesellschaft anerzogen. „Alles wegen die Gesellschaft“, schrieb mal ein unbeholfener Schüler in einer Sozialkunde-Prüfung. Irgendwie fühle ich mich gedrängt zu sagen: Adorno, ick hör dir trapsen, oder?

Man behauptete, dass Kinder aus bildungsbürgerlichen Familien, in denen der elaborated code, also eine gewählte Sprache gepflegt wurde, eine höhere Intelligenz und auch Schulweisheit entwickelten als solche, bei denen es zuhause nur um ca. 100 Worte ging, um einen code gar, der zum Teil nur aus Grunz-, Schnarch-, Schmatz-, Glucker- und Schnalzlauten bestand. Die restlichen Zeichen bzw. Bestandteile des code, waren Ohrfeigen, drohendes Deuten oder Hinschmeißen von Sachen.

War das eigentlich in den bildungsbürgerlichen Familien sehr viel anders? Gerade in der Rex-Familie soll es ähnlich gewesen sein, nur dass dort das Weinen, Schluchzen und Schreien seiner Opfer hinzukam.

Aber Ludwig F. aus Ochsenschenkel (Namen vom Autor geändert, aber den Ort gibt es wirklich!) passte nicht in dieses Schema, er hatte zwar ein solches Elternhaus und fuhr viel Mist, lernte jedoch schnell und soll heute ein beruflich erfolgreicher und gebildeter Familienvater sein.

Bildung. Eigentlich wird heute ja kaum von Bildung gesprochen, sondern immer nur vom Bildungssystem. Dieses soll uns jedoch, die wir der Philosophie über die Urbanität Bambergs zuneigen, einmal weniger interessieren. Stattdessen begeben wir uns in unseren geistigen Garten (siehe letzte Folge der Plaudereien), den man spätestens seit der Antike zum Nachdenken, zu Bildung braucht, und nehmen uns Zeit. – Zeit.

Schon Aristoteles sagte, die Mathematik sei zuerst in Ägypten erfunden worden, weil es dort Priester gab, die Zeit hatten. Wahrscheinlich haben sich diese Priester in Gebäuden mit Säulenhallen aufgehalten, die an den Gärten des Nils lagen – – –

Eine Flut von Einsichten strömt beim Bedenken dieser Zusammenhänge über uns herein. Priester erfanden die Mathematik? Wo bleibt da der als unüberwindbar geltende Widerspruch zwischen Wissenschaft und Religion? Die Antike, Vorbild für den klassischen Bildungsbegriff, sah diesen anscheinend nicht.

Bevor wir – geistig und physisch – weitergehen, sollten wir uns fragen: In welchem Garten bewegen wir uns eigentlich, um die Bamberger Bildung grundsätzlich und speziell auf ihre Urbanität hin zu untersuchen? Ich würde sagen, wir nehmen die Klosterlandschaft Sankt Michael. Kaum ein Bamberger Stadtteil – und es handelt sich im Grunde um einen ganzen Stadtteil, nicht nur um einen kleinen Garten – ist nach wie vor so geistig, ja geistlich geprägt wie diese seit dem Spätmittelalter in vielen Teilen fast unverändert nachvollziehbare Klosterlandschaft. Eine nachvollziehbare und damit zur geistigen Auseinandersetzung inspirierende Klosterlandschaft brauchen wir nun auf das dringendste, wie wir noch sehen werden.

Die Klosterlandschaft Sankt Michael, ehemals ein eigener Rechtsbezirk, ein eigener „Staat“, eine sogenannte Immunität, war und ist ein eigener Kosmos. Sie ist durchaus vergleichbar mit der Stadt, der Polis des antiken Griechenland, die schon Platon als Grundlage für seine Schrift über den Staat gedient hatte; so eine Klosterlandschaft hatte eine eigene Handwerkersiedlung – am Maienbrunnen und im Ziegelhof –, eigene Bauernhäuser, eine eigene Gutsverwaltung – in den Gebäuden um den vorderen Wirtschaftshof, mit erhaltener Brauerei – natürlich eine zentrale Kirche, eine Bibliothek, die „Regierungsräume“ des Abtes im Prälatenbau und vieles andere mehr. 1789 wurde zu Füßen der Klosteranlage, noch in deren Bereich, zwischen den Terrassengärten und der vorbeiströmenden Regnitz, ein großes Krankenhaus errichtet, das für die damalige Zeit Maßstäbe setzte. Heute befindet sich darin ein Hotel.

Zur Klosterlandschaft gehörten verschiedene Gärten, Felder, Obstbaumwiesen, Weinberge und Wälder. Darüber hinaus hatte das Kloster in seiner Hochphase mehrere Hundert Besitzungen in der Südhälfte des Deutschen Reiches, sodass man ohne Übertreibung von einem eigenen Staat sprechen kann. Einer der bedeutendsten Bischöfe Bambergs, der heilige Otto, vordem Kanzler des Reichs und Leiter des Dombaus zu Speyer, förderte das Kloster sehr und fand in der heute noch an Kunstschätzen strotzenden Klosterkirche seine letzte Ruhestätte. Er ist weit über das Bistum Bamberg hinaus bekannt und bedeutend – also kein unwesentlicher Beitrag für die Urbanität Bambergs.

Und weil dieser ganze, gar nicht so kleine Kosmos keineswegs nur eine Art Konzern war, wie viele heutige Städte oder Staaten es gerne sein wollen, sondern einem höheren, einem transzendent-geistlichen Zweck diente, nämlich dem Leben der sich bildenden und Gott preisenden Mönche – aus diesen Gründen ist die Klosterlandschaft Sankt Michael in höchstem Maße geeignet, unserer philosophischen Ergründung des Bildungsbegriffs in Bamberg zu dienen.

Interessanterweise war das Kloster zwar grundsätzlich auf den Gottesdienst ausgerichtet; trotzdem oder vielleicht gerade deswegen funktionierte auch der Kloster-„Konzern“ über die Jahrhunderte hinweg. Freilich gab es Phasen, in denen man wirtschaftlich-finanziell fast ruiniert war, aber dann ging es doch immer wieder weiter, von der Gründung 1015 bis zur Säkularisation 1802 – und darüber hinaus. Welcher andere Konzern konnte jemals über so lange Zeit bestehen?

Wir bewegen uns nachdenklich, mit Zeit und Muße, durch die Klostergärten und begehen damit gleichsam ein zu errichtendes Gedankengebäude; wir erdenken kein philosophisches System, sondern eine begehbare Philosophie. Das ist doch mal etwas Festes, etwas Fassbares und damit erholsames in diesem sonst so wackeligen Bereich, oder?

Fortsetzung folgt.