Verkannt und vergessen. Zu den Gedichten Peter Gans. Nebst einer Erinnerung an Friedhelm Kemp, Hommes de Lettres.

Kleine Romanze

Das Käuzchen kauzt im Wald;
die Unke unkt im Teich.
Der Mond wie bleich, wie kalt!
wie kalt und o wie bleich!

Das Käuzchen klagt und fragt:
‚Wozu? wozu? warum?‘
Die Unke seufzt und sagt:
‚Gib Ruh!‘ Der Mond bleibt stumm.

Peter Gan

Von Chrysostomos

Stumm bleiben heutzutage die meisten Anthologien und die meisten Literaturlexika, wenn es um Richard Moering geht. Und wenn sie ihn dann doch einmal berücksichtigen, so ist er, wie in Harald Hartungs Jahrhundertgedächtnis. Deutsche Lyrik im 20. Jahrhundert (Stuttgart: Reclam, 1998) und in Heinrich Deterings Großem Buch der deutschen Gedichte (Stuttgart: Reclam, 2007) lediglich mit je einem Gedicht vertreten. „Toter Maulwurf“ heißt es bei Hartung, „Auf meine Lampe“, das sich natürlich auf Eduard Mörike bezieht, bei Detering.

Ja, es ist still geworden um Moering, der unter dem Pseudonym Peter Gan Lyrik veröffentlichte. Dabei war er – im Februar 1894 in Hamburg geboren, Anfang März 1974 ebendort verstorben – bereits in der ersten umfassenden Nachkriegssammlung deutscher Dichtung des vergangenen Jahrhunderts vertreten (und zwar mit mehreren Gedichten), die Friedhelm Kemp 1953 unter dem Titel Ergriffenes Dasein herausgebracht hatte. Kemp verantwortete auch Gans Gesammelte Werke, die 1997 in drei fein aufgemachten Bänden bei Wallstein in Göttingen erschienen sind und deren zweitem Band wir die „Romanze“, die so ganz anders ist als die Erich Kästners (aber sie ist ja auch „klein“ und nicht, wie bei Kästner, „sachlich“) entnehmen. Die Werke sind Teil der Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die sich zumal vergessener, verkannter, exilierter Autoren annimmt und deren hochverehrtes Mitglied der Herausgeber Kemp war.

Der stumme Mond, Käuzchen und Unke, mehr Personal braucht es nicht für die „Kleine Romanze“ von Peter Gan, der auch der Muschel (mehrfach), Mäusen und einem Mäuslein, dem Iltis, Rabe und Taube, Spinne, Serpens, dem Turmhahn, der Auster, der Eule (mehrmals), dem Schwan, dem Glühwurm, den suizidären Lemmingen, der Schnecke (zweimal), dem Eichhörnchen, der Fliege, dem Reh, Störchen, dem (toten) Maulwurf und der Zikade Gedichte gewidmet hat. Nach dem Abitur ging Gan auf ein Jahr zum Studium nach Oxford (den schweinsledernen Stuhlrücken in der altehrwürdigen Bodleian Library drehte Gan seinen eigenen Rücken zu), war von 1914 an Soldat, promovierte nach dem Ersten Weltkrieg 1924 in Jura und schloß noch drei Semester Philosophie und Anglistik an.

Mit dem Brotberuf des literarischen Übersetzers aus dem Französischen und aus dem Englischen (sowie, spät, aus dem Griechischen) hielt sich Richard Moering über Wasser. Er kannte Paul Valéry, dessen Werk er ein Motto für sein Gedicht „Flammen“ entnahm, und er hat auf Rilke, der mit Valéry befreundet war, einen Nachruf geschrieben, erschienen im Hamburger Fremdenblatt, Nr. 360, Abendausgabe, 30. Dezember 1926. Dort heißt es über den „aus altem Kärtner Adel stammenden“ Rilke: „Was ihn aus allen zeitgenössischen Dichtern hervorhebt, ist seine mühsam erkämpfte, beispiellose Fähigkeit, Feinheiten, Besonderheiten, Abschattungen der Empfindungen und Gedanken auszusprechen, die bisher im Ozean des Unsagbaren verloren waren.“ Rilkes „Dichter-Magie“ bestehe darin, „Unsichtbares ins Sichtbare zu ziehen“ und „Bilder in Klänge und Klänge in Bilder schemenhaft übergehen zu lassen“. Die höchste Vollendung dieser „Dichter-Magie“ erkannte Gan in den Sonetten an Orpheus und in den Duineser Elegien (beide Bände von 1923).

Gans lyrisches Debüt brachte 1935 der Berliner Atlantis-Verlag, die 171 Seiten starke Windrose. Die unter dem Titel Herbstzeitlose 1974 in Zürich bei Atlantis versammelten letzten Gedichte bringen es nur noch auf 77 Seiten. Es war Gans neunter Gedichtband. Zahlreich sind Gans nicht unter Pseudonym erschienenen Übersetzungen. Richard Hughes, Hermann Melville (Billy Budd und Benito Cereno), Eric Linklater, Graham Greene, Evelyn Waugh, Stephen Spender, Carson McCullers, Henry James (The Turn of the Screw, gemeinsam mit Luise Laporte), Robert Burton (The Anatomy of Melancholy, 1621; als Schwermut der Liebe in Zürich bei Manesse, 1952). Auch den Nigerianer Chinua Achebe hat Moering übertragen, außerdem die Rowohlt-Monographie Robert Schumann (1958) des bulgarischen Komponisten André Boucourechliev (1925 bis 1997; Boucourechliev arbeitete mit Bruno Maderna und Luciano Berio zusammen, wurde von dem gleichaltrigen Pierre Boulez gefördert), die Prosa Marguerite Yourcenars, André Gide, Albert Camus, Guillaume Apollinaire. Gans erste Übersetzung überhaupt war Paul Valérys „Propos sur la poésie“, das im Dezember 1929 unter dem Titel „Über das Wesen der Poesie“ in der Neuen Schweizer Rundschau (Jahrgang 22, Heft 12) herauskam. Auch Sappho, Alkaios und Anakreon hat Gan/Moering übersetzt, sowie Alexander Puschkin.

Von 1927 bis 1929 lebte Gan als freier Schriftsteller in Paris, war dann Lektor beim Kösel-Verlag in Berlin, von wo er im November 1938 nach Paris floh. Die Jahre 1942 bis 1946 verbrachte er im Exil in Madrid, ging dann abermals nach Paris und lebte von 1958 an wieder in Hamburg. Seine „versponnenen, manchmal sanft skurrilen und folglich unterschätzten Gedichte“ (Heinrich Detering) hat man häufig in der Nachfolge Christian Morgensterns gesehen. Ja, die Humoristen, also auch Jean Paul, Laurence Sterne und Wilhelm Busch, stehen Gan nahe, aber hinzu kommen durchaus noch Kant und Goethe, kommen Shakespeare, Alexander Pope und Robert Burton, Hölderlin und George, Voltaire und Valéry.

Zwei, drei weitere Kostproben:

Bäume

Ich höre mir so gern die alten Bäume an.
Sie rauschen so genau, was ich nicht sagen kann.

Die Hand

Nichts hat Bestand; nur eines besteht bestimmt:
Die Hand, die gibt, ist auch die Hand, die nimmt.

Im Quasi-Selbstverlag

Im Quasi-Selbstverlag (kein Honorar):
was offenbar nicht zu umgehen war.
So ging ich denn (fast macht es mich verlegen)
Auch darauf ein. Wer dichtet, weiß weswegen.

O reines Glück: noch lebend und auf Erden
gedruckt zu (wenn auch nicht gelesen) werden!
Gedruckt, versteht man sich nochmal so gut.
Der liebe Leser weiß, wie gut das tut.

NB: Der Kauz, zumindest der Waldkauz, der von Dämmerungsbeginn bis nach Mitternacht aktiv und im Wald, im Park, in großen Gärten zuhause ist, kauzt übrigens so: „trüh…trüh…trüühh“ (tremolierend), „huhu…huuuh…kuhwitt“ (heulend und oft sehr lärmend). Und die Unke, jedenfalls die Bombina variegata, also die Gelbbauch- oder Bergunke, unkt so: „ung, ung, … (Pause), ung, ung …“ Sie, deren Oberseite mit kräftigen spitzen Warzen besetzt ist, laicht mehrmals von Mai bis August; zu finden ist sie in Teichen, Gräben, Pfützen, im Gebirge bis zu einer Höhe von 1800 Metern. Und die Informationen zur Unke wie zum Kauz sind zu finden in der von Paul Brohmer begründeten, von Wolfgang Tischler und Matthias Schaefer fortgeführten wundersamen und wundersam seriösen Fauna von Deutschland. Ein Bestimmungsbuch unserer heimischen Tierwelt (Heidelberg: Quelle & Meyer, 1984; 16. Auflage).

NBB: Als was, fragt Friedhelm Kemp im Nachwort der Gesammelten Werke, sah Peter Gan sich selber, und antwortet: „Eingestandenermaßen als einen poeta minor, als Randfigur und Außenseiter, der Wert darauf legte, auf eine wenn man so will (und er wollte es!) altmodische Weise anders zu sein als seine ‚Jetztzeitgenossen‘.“

NBBB: Ein kleiner Gedenkstein noch für Friedhelm Kemp – Kemp, für den die Literatur „recht eigentlich ein Fest“ war, wie er 1989 in Das Ohr, das spricht (den Band schmückt der schöne Untertitel „Spaziergänge eines Lesers und Übersetzers“) festhielt, hat sich von „diesem Fest des Lebens“ (und, so darf vermutet werden, in Kemps Falle gewiß auch des Lesens) „zu später Stunde entfernt, leise, diskret, wie es seine Art war“ (Harald Hartung, „Zum Tode von Friedhelm Kemp“, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 2011). Hartung resümiert: „Einen Mann seinesgleichen wird es nicht mehr geben. Kemp hinterlässt uns die Tröstung, dass es ihn gab: den Lehrer der Heiterkeit als Kunst.“ Am 3. März 2011 ist der Homme de lettres – im Alter von sechsundneunzig Jahren – in München gestorben.

Friedhelm Kemp war ein „Grandseigneur der Literatur“, aber, was ihn sehr sympathisch macht, kein „Prominenter des Literaturbetriebs“. Noch in den letzten Jahren erstaunte er „seine Freunde und alle, die mit ihm in Berührung kamen, durch seine gewissermaßen unerschütterliche Serenität. Nicht minder erstaunlich erschien ihnen Kemps intellektuelle Frische, seine Gabe, abendliche und nächtliche Gesprächsrunden durch heitere Divagationen und stupende Kenntnisse zu bezaubern.“ Kemp sprach nicht von sich, „er brachte die Sachen zum Sprechen“.

Und wenn er dann doch einmal von sich sprach, dann tat er es leise und still und überraschend, etwa, als er zu seinem Neunzigsten mit Einmal für immer seinen ersten und einzigen Gedichtband vorlegte. Eminent war Kemp, der 1914 in eine liberale Kölner Familie hineingeboren wurde und immun blieb gegen den faschistischen Zeitgeist, als Essayist, als Übersetzer und Herausgeber, als Leiter der Literaturabteilung des Bayerischen Rundfunks. Die Poesie wurde sein Reich, und das schon früh. Der Fünfzehnjährige brachte sich Französisch bei, um Baudelaire lesen zu können, die Fleurs du Mal (eines der zwei, drei Grundbücher der Moderne), ohne die „alles anders abgelaufen“ wäre, ohne die „vermutlich nichts ‚gelaufen‘“ wäre. Das Studium der Romanistik führte ihn nach München – die Stadt seines Lebens und Lesens – wo er 1938 mit einer Arbeit über Baudelaire und das Christentum promoviert wurde.

Kemp hat Aragon übersetzt, auch Claudel, Henri Michaux, Charles Péguy, Yves Bonnefoy, Philippe Jaccottet und etliche andere Autoren der Romania (und die großen Angelsachsen wie Gerald Manley Hopkins oder so manche Von Chaucer bis Milton, wie der erste Band der zweisprachigen Anthologie englischer und amerikanischer Dichtung heißt, den Kemp gemeinsam mit Werner von Koppenfels bei C. H. Beck in München herausgegeben hat). Er machte sich stark für vergessene oder unterschätzte Autoren der deutschen Moderne wie Rudolf Borchardt, wie Konrad Weiß und wie eben Peter Gan. Kemps Chef-d’œuvre ist die achtbändige Baudelaire-Ausgabe, mit welcher er den französischen Hauptdichter der Moderne bei uns bekannt gemacht hat. Ein spätes Opus magnum ging hervor aus einer Vorlesungsreihe des bereits über Achtzigjährigen an der Ludwig-Maximilians-Universität: Das europäische Sonett (2002; zwei Bände, bei Wallstein, Göttingen). Darin beschrieb Kemp, so Harald Hartung, „anhand von sechshundert Beispielen das Sonett als virtuelles Feld, das sich über ein Jahrtausend ausbreitete und noch heute lebendig ist“.

Kemp verglich in seiner Studie das Sonett mit einem „mehr oder minder festlichen Gedeck“ und folgerte: „Letzten Endes kommt es darauf an, was wir zu essen bekommen. Beim Sonett nicht anders.“ Über Friedhelm Kemp läßt sich sagen, was Hubert Spiegel von der FAZ für den gleichfalls 2011 verstorbenen Göttinger Wortmenschen Heinz Ludwig Arnold in Anspruch nahm: „Im literarischen Leben Deutschlands gibt es keinen Zweiten wie ihn.“