Die Fackel der Lust: Gen Italien! Einer kleinen Sommerreise durch das Sehnsuchtsland der Deutschen erster Teil.

Bergamo

Hier schäumt noch klar der Wein
in der Kelter aus honigfarbenem Stein
darein die Biene Zeit Waben aus Stille baut.
Der Wolken Schattenküsse wallen vorüber
aus Herbst in Frühling
und vom Wall der Alpen schwindet nie der Firn.
Umkränzt von Seen und Rauch aus tausend Hütten
lagert der Platz in seiner Mauern Hut.
Lausche dem Sang des schlangenumringelten Brunnens.
Hier werden Rätsel verkündet die kein Wanderer löst.
Nachts schränken die Dächer ihre Arme ineinander
und des Eros Küsse zünden die Fackel der Lust.
Löwen erheben sich lässig
auf steinernen Pranken
gleiten Treppen aus goldenem Marmor
hinan und herab.
Jetzt leuchten ihrer Augen Schlitze grün
und Bänder aus Phosphor
wickeln Eurydike ein.

Karl Otten

Von Chrysostomos

Am Montag erinnerte man, beispielsweise am Gabelmann, vor der Teegießerei und vor Schloß Geyerswörth, an die barbarische Bücherverbrennung, die vor achtzig Jahren in Bamberg wütete. Zu den Büchern, die die Nazis im Zuge ihrer unsäglichen Säuberungsaktion auf die Liste setzten, zählten etwa die von Heinrich und Klaus Mann, von Joseph Roth und Kurt Tucholsky, von Iwan Goll und Lion Feuchtwanger. Unlieb war der Horde auch das Werk Walter Hasenclevers und – mit Ausnahme der beiden um die Biene Maja kreisenden Romane von 1912 und 1915 – von Waldemar Bonsels.

Dessen Vorfahren stammen aus dem niederrheinischen Niederkrüchten, das unmittelbar an der Grenze zu den Niederlanden liegt und dem Regierungsbezirk Düsseldorf angehört. Im benachbarten Oberkrüchten ist Karl Otten (1889 bis 1963) geboren. Auch Ottens Bücher wurden in der dunklen braunen Zeit verbrannt. Otten, dessen Nachlaß sich im Deutschen Literaturarchiv zu Marbach befindet, ist heute kaum mehr bekannt. In Köln und Bochum aufgewachsen, besuchte er von 1907 an das Aachener Kaiser-Wilhelms-Gymnasium. Unter seinen Mitschülern war der bereits genannte Walter Hasenclever, auch der Autor und Literaturwissenschaftler Ludwig Strauß, der sich mit einer Arbeit über Höderlin habilitierte, gehörte dazu.

In München studierte Otten Sozialwissenschaften und Kunstgeschichte, fand Anschluß an die anarchistische „Gruppe Tat“ und den „Sozialistischen Bund“ um Erich Mühsam. Reisen führten ihn gen Italien, nach Frankreich, Griechenland und Albanien (Die Reise durch Albanien, 1912). Seine pazifistische Einstellung brachte Otten während des Ersten Weltkrieges zwei Haftstrafen ein. Von 1922 an lebe er in Berlin und schrieb für das Feuilleton verschiedener Blätter, darunter das der Frankfurter Zeitung. Otten, der früh vor dem Nationalsozialismus gewarnt hatte, ging 1933 nach Paris, dann ließ er sich auf Mallorca nieder, ehe er 1936 in London, wo er für die BBC arbeitete, ein Zuhause fand. 1944 erblindete er vollständig. Es war seine zweite Frau, Ellen, durch deren Hilfe er nach wie vor schriftstellerisch wirken konnte. Der britische Staatsbürger (seit 1947) übersiedelte 1958 in die Nähe von Locarno, wo er fünf Jahre hernach verstarb.

Mit seiner Prosa und einigen Schauspielen gilt Otten als wichtiger Vertreter des Expressionismus. In Essays und in Editionen, auch in Vorträgen, machte Otten selbst auf expressionistische Autoren und auf jüdische Schriftsteller aufmerksam. Er gab beispielsweise Gedichte und Prosa von Albert Ehrenstein heraus und edierte Georg Kreisler (Zwei alte Tanten tanzen Tango, 1961).

Vom Lago Maggiore, von Muralto nach „Bergamo“, wo der Wein noch klar schäumt „in der Kelter aus honigfarbenem Stein“, ist es nicht weit. Zwei, drei Katzensprünge. Da sind die „Schattenküsse der Wolken“, da ist der „Wall der Alpen“; aus dem „schlangenumringelten Brunnen“ tönt eine Wassermusik, Rätsel werden gestellt, „die kein Wanderer löst“. Nachts, wenn die „Dächer ihre Arme ineinander“ schränken (ist das nicht ein schönes Bild?), kommt selbstverständlich Lust auf. Und, in der Tat, so ist es: die Küsse des Eros „zünden die Fackel der Lust“. Mit der im letzten Vers angeführten Eurydike taucht wieder die Schlange auf. Und es mag sein, daß Otten sich mit diesem Gedicht auch auf Tizians „Orpheus und Eurydike“ (1500) bezieht. Das Ölgemälde hängt in der Galleria dell‘ Accademia Carrara (Stichwort „goldener Marmor“). Und die befindet sich eben in „Bergamo“.

NB: Einer der großen Literaturwissenschaftler hierzulande ist der längst emeritierte Heidelberger Anglist Kurt Otten. Inwieweit, und ob überhaupt, Karl und Kurt verwandt sind, vermag ich nicht zu sagen.

NBB: Mit Bergamo verbunden – denn er ist dort, 1931, verstorben – ist Enrico Rastelli. Dem wohl größten Jongleur aller Zeiten hat Joachim Ringelnatz ein Gedicht gewidmet.

NBBB: Mit Krüchten verbunden ist, neben Karl Otten und Waldemar Bonsels, Charlotte Roche. Sie besuchte in Niederkrüchten die Grundschule. Ob auch Roche, Jahrgang 1978, bereits besungen worden ist?