Vergiß auch diese letzten Astern nicht, oder: morgens und abends zu lesen. Johann Christian Günther wendet sich an die ihm lebenslang Liebste.

An Leonoren.

Gedenck an mich und sey zufrieden
Mit dem, was Glück und Zeit bescheert;
Wir werden noch einmahl geschieden,
Und scheinen solcher Prüfung werth.
Die wahre Treu erinnert dich:
Halt an, halt aus und denck an mich!

Gedencke der vergangnen Tage!
Wie manches Creutz, wie manche List,
Wie manche Lust, wie manche Plage
Bereits damit vergangen ist?
Gedenk an Altan, Hof und Herd,
Wobey sich dir mein Hertz erklärt.

Gedenck an unser Abschied-Nnehmen,
Insonders an die letzte Nacht,
In der wir mit Gebeth und Grämen
Die kurzen Stunden hingebracht!
Gedenck auch an den treuen Schwur,
Der dort aus deinen Lippen fuhr.

Gedenck an mich an iedem Morgen,
Und wenn die Sonne täglich weicht!
Gedenck an mich bey Fleiß und Sorgen,
Mein Bildniß macht sie süß und leicht.
Verletzt dich auch der Mißgunst Stich;
Der beste Trost: Gedenck an mich.

Gedenck auch an die frohen Zeiten,
Die noch in Wunsch und Zukunfft sind!
Die Vorsicht wird uns glücklich leiten,
Biß Lieb und Treu den Krantz gewinnt.
Ein Augenblick vergnügter Eh
Bezahlt ein Jahr voll Angst und Weh.

Gedenck auch an mein heutig Küssen,
Es giebt der Hoffnung frische Krafft,
Es wird dein Warten trösten müssen,
Es nährt die alte Leidenschafft!
Doch denck auch endlich, liebst du mich,
Allzeit und überall an dich!

Johann Christian Günther

Von Chrysostomos

Alt ist er nicht geworden, dieser aus dem niederschlesischen Striegau (heute: Strzegom) gebürtige Arztsohn, dem das zwiefache Glück widerfuhr, auf dem Gymnasium, in Schweidnitz, auf Lehrer zu treffen, die sein Talent zum Schreiben förderten, und auf seine große Liebe, Leonore Jachmann (1689 bis 1746), der er von 1714 an etliche Gedichte auf den gewiß schönen Leib schrieb. Gerade einmal siebenundzwanzigjährig, erlag Johann Christian Günther, den die Literaturgeschichte als verfrühten Stürmer und Dränger, als genialisch-tragischen Vorgänger Goethes verklärte, in Jena der Tuberkulose.

Günther, der sich in einem Leben als freier Schriftsteller eher erfolglos versuchte, war fortwährend auf der Suche nach Gönnern und Mäzenen, darunter Prinz Eugen. Sich zu etablieren, wollte ihm nicht gelingen; das Armenhaus war ihm wohlbekannt. Einigen Ruhm erlangte Günther postum, denn bereits 1724, also ein Jahr nach seinem Tod, erschien bei Michael Hubert in Breslau eine Sammlung von Johann Christian Günthers theils noch nie gedruckten, theils schon herausgegebenen deutschen u. lateinischen Gedichten, die in der Folge immer wieder erweitert wurde. Die erste Gesamtausgabe erlebte sechs Auflagen. Wenn das mal nichts ist!

In seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit äußerte sich Goethe über Günther so: „Ein entschiedenes Talent, begabt mit Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Gedächtnis, Gabe des Fassens und Vergegenwärtigens, fruchtbar im höchsten Grade, rhythmisch bequem, geistreich, witzig und dabei vielfach unterrichtet.“ Etwas von dieser Sinnlichkeit, von der Gabe des Fassens und Vergegenwärtigens, von Witz und Geist ist auch zu spüren in „An Leonoren.“, einem von etwa sechshundert überlieferten Liebes-, Klage- und Abschiedsgedichten, von Studentenliedern; und läßt der schöne Schluß nicht an Brecht denken?