Weiter mit der Schweiz, und auf ins Tessin. Zu Alberto Nessi, der uns daran erinnert, das Leben mit Zuneigung zu betrachten.

An das Leben

Vielleicht ist es nur ein Ballett
für jemand, der es betrachtet
mit Zuneigung, das Leben. Ein paar getanzte Schritte,
ehe es Nacht wird, wie von ihr, die ich sehe,
selber nicht zu sehen, draussen vor dem Fenster im Parterre,
eben von einer Rundfahrt auf dem Land zurück:
Ich schaue, und es bist du, die ihren Auftritt probt
im langen Kleid vor deiner Mutter.
Tanze, tanze, verwechsle nicht die Füsse,
tanze wie das Blatt, das dem Wind
nicht weicht, und tanze leicht.

Alberto Nessi
(aus dem Italienischen übertragen von Jürgen Theobaldy)

Von Chrysostomos

Verweilen wir noch ein wenig in der vielsprachigen Schweiz, ziehen wir vom Engadin weiter ins Tessin, ins Ticino. Italien, bekanntlich das Sehnsuchtsland der Deutschen, ist nicht weit, und im Sottogeneri, im südlichen Teil des Tessins, liegt – unmittelbar an der Grenze – die Gemeinde Chiasso. Alberto Nessi ist dort 1940 geboren. Er sei, hat er in einem Gespräch mit Isabelle Rüf, Literaturkritikerin bei Le Temps in Genf, einmal gesagt, ein ruhiges, kein aufständisches Kind gewesen, „una bambino tranquillo, non un ribelle“. Auf der Lehrerbildungsanstalt in Locarno hat er Pavese, Passolini und Italo Calvino für sich entdeckt.

Schön ist auch die Geschichte, wie Alberto Nessi zum Schreiben fand, nämlich über die Musik. Es habe da, in Chiasso, eine Nachbarin gegeben, in die er verliebt gewesen sei, eine Blondine, „una bionda“, der Gipfel dessen, von dem er damals habe träumen können. Unerreichbar für ihn, „irraggiungibile“. Er habe es nicht gewagt, mit ihr zu sprechen, noch ihr in die Augen zu schauen. Eines Tages, als er gerade auf seiner alten Posaune spielte, habe sie an seine Tür geklopft. Vor Scham habe er sich im Schrank versteckt, aber er habe über sie geschrieben …

Die Musik hat Nessi über den Jazz entdeckt, mit Louis Armstrong, in den Jukeboxes von Chiasso, ein Allheilmittel gegen die Rührseligkeit der italienischen Volkslieder. Charlie Parker hat er sehr gemocht, und dann Georges Brassens: „La vie c’est toujours amour et misère“ (die Übersetzung schenken wir uns). Der Tanz, die Musik, gehören für Nessi zum Leben. Sie haben ihr Echo mithin auch in seinen Gedichten gefunden. Die da „ihren Auftritt probt / im langen Kleid“ vor der Mutter, ist die Tochter. Sie heißt übrigens Vita. So widmet Alberto Nessi wortspielerisch sein Gedicht zugleich dem Leben wie der Tochter (was in der deutschen Übertragung verlorengehen muß).

In den Gedichten, in den Essays, in der Prosa Nessis ist die Natur allgegenwärtig, hier „das Blatt, das dem Wind / nicht weicht“. Von Isabelle Rüf auf die Häufigkeit von Naturbildern in seinen Schriften angesprochen, entgegnet Nessi: „I fiori sono la vita, no?“ Die Blumen sind das Leben, oder nicht? Und für ihn habe die Natur immer etwas Heiliges.

Hier noch Alberto Nessis Original:

A Vita

Forse è solo un balletto
davanti a qualcuno che ci guarda
con affetto, la vita. Qualche passo di danza
prima di notte, come questi che vedo
non visto dalla finestra a pianterreno
tornando da un giro in campagna:
guardo e sei tu che provi il saggio
con il vestito lungo davanti a tua madre.
Danza danza, non sbagliare piede
danza come la foglia che non cede
al vento, danza lieve.

NB: Im Zürcher Limmat Verlag, der ein weitgespanntes und sehr feines Lyrikprogramm pflegt – mit zweisprachigen Ausgaben etwa von Fabio Pusterla, Remo Fasani, Luisa Famos, Agnes Mirtse – liegt von Alberto Nessi der Gedichtband Mit zärtlichem Wahnsinn / Con tenera follia von 1995 vor. Übersetzt hat ihn Maja Pflug. Bei Limmat zu haben sind auch Nessis Romane (zuletzt, 2009, Nächste Woche, vielleicht; wiederum übertragen von Pflug) und Erzählungen, beispielsweise der Band Terra matta (2005). Erich Hackl, der österreichische Prosaautor und Übersetzer, hierzu: „Dieses schmale Buch wiegt für mich eine Jahresproduktion österreichischer Belletristik auf.“

NBB: „A Vita“ und Jürgen Theobaldys Übertragung „An das Leben“ sind entnommen dem Leserinnen und Lesern dieser Kolumne bereits bekannten, von Hans Thill herausgegebenen Schatzkästlein Das verborgene Licht der Jahreszeiten. Gedichte aus der Schweiz (Heidelberg: Das Wunderhorn, 2007). Und da man in der Schweiz kein „ß“ kennt, sind die Worte „draussen“ und „Füsse“ korrekt wiedergegeben.