Vorsorge und Bürgerbeteiligung – Das BfS und die Baumschäden

Die Zunahme schwerer Baumschäden im Strahlungsfeld von Mobilfunksendeanlagen war bereits mehrfach Thema in der Bamberger OnlineZeitung. Nein, wir möchten keine irrationalen Ängste schüren. Doch eines steht fest: Durch fortschreitende Elektrifizierung und Nutzung von Funkwellen ist der Mensch zunehmend künstlich erzeugten elektromagnetischen Feldern ausgesetzt: dem Elektrosmog. Das Thema wird uns weiterhin begleiten. Aktuell beschreibt der Diplom-Forstwirt Helmut Breunig die unverständliche und wenig sachgemäße Handhabung des Problems möglicher Baumschäden durch Mobilfunksender durch das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS). diagnose funk hat die Experten-Anhörung im Bundestag vom Februar 2013 als Text und Filmbeitrag online gestellt.

Helmut Breunig, Diplom-Forstwirt
Die Europäische Umweltagentur (EUA) belegt in ihrer wissenschaftlichen Dokumentation zur Geschichte und Bedeutung der Umweltvorsorge „Späte Lehren aus frühen Warnungen“ (1), dass für deren wirksame Umsetzung bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Dazu gehört, dass dem jeweiligen Wissensstand entsprechende praktische Maßnahmen zu treffen sind. Vorsorge wird erforderlich, wenn Unkenntnis vorliegt. Unkenntnis herrscht, solange Auswirkungen von Umweltfaktoren unbekannt sind bzw. eine nur geringfügige Kenntnis über die Wahrscheinlichkeit von Schadfolgen besteht und daher überraschende Zusammenhänge nicht auszuschließen sind. Vorsorge beinhaltet „Maßnahmen zur Früherkennung und Verminderung der Auswirkung von „Überraschungen“, … und Nutzung möglichst breit gefächerter Informationsquellen einschließlich Langzeitbeobachtung.“

Amtliches Risikomanagement 

Dass in Bezug auf mögliche Schadwirkungen bei Bäumen durch Mobilfunksender weitgehende Unkenntnis der Stand der amtlichen Wissenschaft ist, wurde durch Veröffentlichungen des behördlichen Strahlenschutzes mehrfach erkenntlich. In zwei Positionen auf seiner Webseite befasst sich das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) mit dieser Frage; „Elektromagnetische Felder und die belebte Umwelt“ (2). und „Stellungnahme zur Frage möglicher Wirkungen hochfrequenter und niederfrequenter elektromagnetischer Felder auf Tiere und Pflanzen“ (3)

Als Grundlage für eine Einschätzung des Risikos durch elektromagnetische Felder auf Pflanzen und Tiere dient dem BfS eine Literatursichtung (Zeitrahmen 1988–2011). Keine der Studien zu Pflanzen hat die hier im Fokus stehende Frage einer möglichen Beeinträchtigung von Bäumen durch Mobilfunksender zum unmittelbaren Gegenstand. Sämtliche der in den 5 angeführten Studien zu Bäumen untersuchten technischen Parameter der Abstrahlung unterscheiden sich von Emissionen durch Mobilfunksender. Insgesamt kommt das BfS zu dem Schluss, dass „elektromagnetische Felder“ „kein offensichtliches Schädigungsrisiko für Waldbäume“ darstellen, sofern Bedingungen wie in den angeführten Studien gegeben seien. Als Ansatz für eine solide hypothetische Modellierung der strahlungsökologischen Verhältnisse bei Bäumen um Mobilfunksender sind die vom BfS referierten Ergebnisse ungeeignet. Denn die Art der Emissionen generiert in Wechselwirkung mit den ökologischen Gegebenheiten die realen Expositionscharakteristika an den Untersuchungsobjekten.

An wissenschaftlichen Untersuchungen, deren Ergebnisse geeignet wären, die infolge der Unkenntnis bestehende Unsicherheit bei der Risikobewertung zu überwinden, besteht ein Mangel, der dem BfS lange bekannt ist. Bereits 1999 stellten WHO, ICNIRP und BfS gemeinsam fest, dass für die Langzeitwirkung niedriger EMF-Exposition auf die belebte Umwelt fast keine Information verfügbar ist und benennen dies als einen „schwer zu verstehenden“ Umstand. Auch die Untersuchung von EMF-Einflüssen auf Pflanzen wurde deswegen in eine Liste von „spezifischen Themen, mit denen man sich befassen muss“ aufgenommen (4).

Da sich trotz dieser Mängelrüge in eigener Zuständigkeit nichts geändert hatte, beklagt das BfS in seiner Leitlinie zum Strahlenschutz 2005: “Die wissenschaftlichen Grundlagen zu einer belastbaren Bewertung der möglichen Schädigung von Flora und Fauna sind allerdings bislang nicht systematisch erarbeitet.“ (5)

Mit dem Verweis auf den seit 1984 jährlich erscheinenden Waldzustandsbericht legt das BfS ein Forschungsdefizit bei Bäumen offen. „Die Ursachen für den Zustand der geschädigten Bäume … reichen von Krankheiten und Parasiten bis zu Umweltverschmutzung und Klimawandel. Elektromagnetische Felder gehören nicht zu den Ursachen“ (3). Wie sollten sie auch. Der Einfluss von EMF wird bei den Waldzustandserhebungen nicht berücksichtigt. 1990 hatte das Bundesministerium für Forschung und Technologie ein Forschungsprogramm zur Überprüfung des Verdachts auf Waldschäden durch nichtionisierende Strahlung abgelehnt. (6)

2006 wurden dem BfS von Bürgern gelegentlich eines Fachgesprächs erste Beobachtungen vorgelegt, die auf Baumschäden um Mobilfunksender hinweisen (7, 8). Zugleich wurden erstmals Indizien für die Hypothese vorgebracht, dass Baumschäden und Erkrankungen von Menschen am selben Ort auf dieselbe Ursache zurückzuführen sein könnten. 2009 bezeichnet das Bayer. Staatsministerium den Verdacht auf Kronenschäden durch Mobilfunk als „persönliche Meinung des Autors“ (13). Für Behörden können sie schwerlich etwas anderes darstellen, solange sie selbst keine amtlichen Vorortuntersuchungen veranlassen.

2013 stellt das BfS fest, dass der Stand des 2008 abgeschlossenen Deutschen Mobilfunk Forschungsprogramms weiterhin gilt. Damals konnten keine Erkenntnisgrundlagen für Beurteilung von Schadmeldungen an Bäumen geschaffen werden, denn für die Bundesregierung besaß „die Klärung von Fragen der gesundheitlichen Risiken des Menschen höchste Priorität“. Begründung für diese Schwerpunktsetzung: „Der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand im Bereich der belebten Umwelt hat bisher keine wissenschaftlich belastbaren Hinweise auf eine Gefährdung erbracht.“ (9) Die Entwicklung der amtlichen Erkenntnisse scheint trotz der früheren Anmahnungen durch WHO, ICNIRP und BfS zu stagnieren. Wiederholt bemüht die Bayer. Staatsregierung (2x in 2008, 1x in 2009) den internationalen Erkenntnisstand in Reaktion auf Verdachtsmeldungen und Aufforderungen zu eingehender Erforschung von Kronenschäden an Mobilfunksendern als Begründung für ihr Urteil. „Es liegen international weitgehend akzeptierte Analysen über die Ursachen von Baumschäden vor, auf denen die Maßnahmenkataloge der Bundesregierung basieren.“ (10). Die Bundesregierung leitet ihre Maßnahmen aus den Waldschadensberichten ab. Die Maßnahmen können nur auf der Kenntnis von Schäden beruhen, die aufgrund anderer Faktoren als Hochfrequenzwirkungen eintreten. Die Infragestellung dieser Ausrichtung des Monitorings durch Verweise auf Indizien für Mobilfunkschäden an Bäumen ist nach Auffassung der Bayer. Staatsregierung nicht mit ihr zu diskutieren. Hierfür seien die betreffenden Fachstellen zuständig. 2011 wiederholt die Bayer. Staatsregierung in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage ihren Verweis auf die Zuständigkeit des BfS. “Das Bundesamt hat den aktuellen Kenntnisstand im Internet unter http://www.bfs.de/de/elektro/papiere/EMF_Wirkungen.html (s. 2) veröffentlicht.“ (11).

Erhellend, wenn sie 2013 in Reaktion auf neuere Dokumentationen von Verdachtsfällen aus einer Stellungnahme zitiert, die von ihr beim ehemaligen Vorsitzenden der Strahlenschutzkommission (NIR, 2009–2012), Prof. A. Lerchl, eingeholt wurde: „Mir ist auch keine einzige Arbeit bekannt, die den möglichen Effekt von Basisstationen auf die Gesundheit von Bäumen im Freiland untersucht hat.“ (12).

Mit Verweis auf die maßgebliche fachliche Zuständigkeit des BfS hatte die Bayer. Staatsregierung es 2009 als verzichtbar angesehen eigene Studien zum Thema „Baumschäden und Hochfrequenzsender“ in Auftrag zu geben, denn „die Empfehlungen der Expertenkommissionen werden regelmäßig aktualisiert“. (11). Die Rechtfertigung hierfür zieht sie zudem aus der Kenntnis „wissenschaftlicher Studien“ sowie aus den Ergebnissen einer Studienbewertung der Strahlenschutzkommission (SSK) (14), die diese bereits 1990 – kurz vor Einführung der 2. Mobilfunkgeneration – vorgenommen hatte, und die sich auf „biophysikalische Analysen“ und Ergebnisse „direkter Waldschadenserhebungen“ gründen. Mit den strahlenökologischen Realbedingungen des Mobilfunks der neueren Generationen (GSM, UMTS), auf die sich die Anfrage bezog, hat die SSK-Expertise nichts zu tun. Sie wurde im Zusammenhang mit der Forderung an das Bundesforschungsministerium, ein Forschungsprogramm durchzuführen (s. 4), erstellt. Die Forderung war erhoben worden aufgrund der Beobachtung von Schäden in räumlicher Zuordnung zu Richtfunkstrecken und Radar. Die Beobachtungen hatten darüber hinaus Mutmaßungen veranlasst, dass HF-Strahlung eine generelle Ursache auch für großflächige Waldschäden (Waldsterben) sein könnte. Die Beurteilung der SSK bezog sich daher explizit auf „ausgedehnte Waldschäden“ und hatte nur Waldstudien begutachtet, die sich auf flächenhaft abstrahlende Radio- und Fernsehsender bezogen. Was mag die SSK bewogen haben festzustellen, dass „Einzelbeobachtungen in Waldschadenserhebungen“ zur Ursachenfindung generell „nicht tauglich“ seien. Wie sollte man nun lokale Schäden mit relativ scharfen Grenzübergängen z. B. auf Kammlagen, die von Richtfunkstrecken bestrichen werden, einordnen?

Der deus ex machina des amtlichen Strahlenschutzes, der ihm im Argumentationsnotstand die Deutungshoheit bewahren soll, besteht in einer „zirkulären Struktur der Argumentation“ (15). Beispielhaft für das Vorgehen der Exekutive insgesamt ruft ihn die Bayerische Staatsregierung mit ihrem selbstbezüglichen Orakelspruch, dass der „Nachweis eines kausalen Zusammenhangs“ „mit wissenschaftlichen Methoden nicht erbracht“ sei (13), regelmäßig herbei. Für die Regierung besteht kein Handlungsbedarf, solange der Verdacht nicht erwiesen ist. Unbewiesen ist er, solange die amtliche Wissenschaft ihr sagt, es gäbe keine Beweise. Beweise können aus Sicht der Regierung nur dann vorliegen, wenn die amtliche Wissenschaft solche findet. Diese wird keine finden können, solange die Regierung ihr keinen Auftrag erteilt, biologische Untersuchungen mit einem positiv hypothetischen Ansatz vorzunehmen. Ist ein solcher nicht gerade dann zur Vorsorge und Beseitigung von Unsicherheit unverzichtbar, wenn man erkennt, dass es unmöglich ist, die Unschädlichkeit zu beweisen? Auf Unmögliches beruft man sich von Amts wegen leicht, wenn es um Herstellung von Risikoakzeptanz geht. Faktisch weigert sich jedoch die Bewertungs- und Genehmigungsinstanz, selbst aktiv nach Verdachtsbestätigungen zu suchen. Versteht sie sich insgeheim als Beklagte?

Transparenz durch zugängliche Informationen 

Die EUA-Studie hebt neben anderen Kriterien für eine effektive Vorsorge das Gewicht der Einbeziehung von „Laienwissen“ hervor. Die Autoren arbeiten die Bedeutung von „verlässlichen und allen Beteiligten zugänglichen Informationen für eine effektive Gestaltung der Politik und für die Mitwirkung der Betroffenen am Entscheidungsprozess heraus — vor allem auch in dem bestehenden Kontext von Komplexität, Unkenntnis, hohem Risiko und der Notwendigkeit von „kollektiven Lernprozessen“ (16). Neben dem Fachwissen von Experten sei „das Wissen von „Laien“ sowie lokal verfügbares Wissen heranzuziehen“. „Es geht hierbei nicht darum, dass Laien grundsätzlich bessere Kenntnisse hätten oder sich stärker für die Umwelt engagierten, vielmehr beruht der besondere Wert des „Laienwissens“ in dessen ergänzendem Charakter, seiner … gelegentlich festeren Verankerung in den realen Bedingungen und der damit einhergehenden Unabhängigkeit von den engen fachbezogenen Sichtweisen, die sich mitunter als Nachteil des Expertentums bemerkbar machen. Darüber hinaus stützt sich Laienwissen über eine Technologie oder bestimmte Risiken häufig auf andere Annahmen dessen, was wichtig ist oder welches Ausmaß an Kontrolle begründeter Weise zu erwarten oder zu verlangen ist“ Wieweit entspricht der amtliche Strahlenschutz diesen Anforderungen?

Auch auf Schadbilder bei Bäumen ist die Vorgabe des BfS zu beziehen, dass ein möglicher Zusammenhang mit elektromagnetischen Feldern nur dann überprüft werden sollte, „wenn sich solche Beobachtungen auffällig häufen und keine andere plausible Erklärung vorliegt.“ Zwar habe die Wissenschaft bei Pflanzen noch nicht abschließend geklärt, „ob bestimmte Intensitäten und Frequenzen elektromagnetischer Felder das Wachstum von Pflanzen hemmen oder fördern können“. In der Bewertung derjenigen Studien, die dem BfS Hinweise liefern, „dass Pflanzen auf elektromagnetische Felder im Bereich der Grenzwerte physiologisch reagieren können“ legt das BfS einen Maßstab an, nach dem diese an Zahl wenigen Arbeiten bislang nicht reproduziert und wenig belastbar seien. Dies genügt als Grundlage für das Fazit, dass Reaktionen möglich seien, „schädliche Effekte aber nicht zu erwarten sind.“ „Gravierende schädigende Wirkungen auf die Pflanzengesundheit wurden aber bisher nicht beobachtet.“

„Gelegentlich“ würden „aus der Bevölkerung geschädigte Bäume gemeldet und durch Fotodokumentation belegt. “Das BfS misst derartigen Hinweisen keinen wissenschaftlichen Wert zu“, weil „in der Umgebung von Basisstationen unzählige gesunde oder auch kranke Bäume zu fotografieren“ seien. Es handele sich lediglich um „einzelne Beobachtungen“, für die kein Zusammenhang zwischen Sendeanlagen und Veränderungen gegeben sein müsste; mithin diese nicht durch elektromagnetische Felder bedingt sein müssten, denn sie könnten auch rein zufällig sein oder andere Ursachen haben. Wenn solche Unsicherheiten bestehen, sollten Untersuchungen an den gemeldeten Objekten die rationale Konsequenz sein.

Welche Art von Baumschäden unter welchen Standortbedingungen wurde in welcher Anzahl tatsächlich gemeldet? Waldbestände, Horste, Solitäre? Bäume in Parks, Alleen? V. a. im bebauten Bereich sind durch Schattierung, Reflexion, Beugung und Dämpfung besonders komplexe Expositionskonstellationen zu erwarten. Durch die topografische Streuung von Baumstandorten in Siedlungen ist jeder geschädigte Baum für sich betrachtet leicht eine „Einzelbeobachtung“. Wenn das BfS Inhomogenität und Diversität von Baumschäden um Mobilfunksender als generalisierbares Indiz dafür nimmt, dass ein Zusammenhang mit Hochfrequenzfeldern eher unplausibel sei, ergibt sich die Frage, welche räumlichen und zeitlichen Verhältnisse bei den Schadbildern und welche Schädigungsgrade von einzelnen Bäumen und Baumbeständen als Schwelle für eine Veranlassung von Untersuchungen vor Ort angesehen werden? Welche Modellvorstellungen über das Strahlungsmilieu liegen den Bewertungen von Schadbildern an Einzelbäumen durch das BfS zugrunde? Die Expositionen an verschiedenen Mobilfunksendern dürften aufgrund der technischen Vielfalt der Netze und zeitlichen Varianz der Abstrahlung in strahlungsökologischer Hinsicht nicht als gleich anzusetzen sein. Zumindest nicht, wenn athermische Wirkungen als Schadfaktor nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Solange die Klärung von Schadensfällen nicht gesichert ist, behalten Schadbilder ihre Indizwirkung für das Vorliegen bisher nicht tiefergehend untersuchter Ursachen.

Auch wegen der vergleichsweise geringen Zeitspanne der Dauerexposition langlebiger Pflanzen seit Verbreitung der für Mobilfunkfelder spezifischen Signalcharakteristika kann bei Bäumen nicht von einer phänologisch, physiologisch und morphologisch geklärten Schadbilderkennung ausgegangen werden. Die Eigendämpfung der Kronen muss in ihrer räumlichen und jahreszeitlichen Varianz betrachtet werden. Baumart, Alter, ökologischen Standortfaktoren, Bestandsaufbau und -geschichte usw. müssen dabei berücksichtigt werden. Wurden geschädigte Bäume schon entfernt? Die Prüfung auf synergistische Wechselwirkungen mit biotischen und anderen abiotischen Schadfaktoren ist unerlässlich. Wenn geometrische Gradienten der Kronenschädigung in Richtung einer infrage kommenden Immissionsquelle auffallen, wenn Schäden nachweislich erst nach Expositionsbeginn eingetreten sind, kann ein theoretischer Verweis auf die mögliche Verursachung durch alternative Schadfaktoren wissenschaftlichen Anforderungen nicht genügen. Wie lange warten darf eine auf Vorsorge ausgerichtete Wissenschaft in Anbetracht der dürftigen Erkenntnislage, bei der das Risiko einer „Überraschung“ in Rechnung gestellt werden muss, und alternative Ursachen bei gemeldeten, konkreten Schadfällen noch nicht belegt wurden?

Wissenschaft für Vorsorge 

Beobachter irritiert das Missverhältnis zwischen Urteil und Information durch das BfS. Einerseits ist die sachliche Verbindung schwach, die zwischen der negativen Beurteilung von Hinweisen auf Baumschäden durch das BfS und der Aussagekraft der Ergebnisse der Literaturstudien besteht, auf die sich das BfS dabei stützt. Andererseits fehlt eine öffentlich zugängliche Dokumentation über Meldungen und Prüfung von Schadensbeobachtungen. Umfänglichere Information und Transparenz finden „Laien“ eher in Abhandlungen von Bürgern, beispielsweise in “Wirkungen elektromagnetischer Felder auf Pflanzen – Beobachtungen und Studien aus 80 Jahren“, die Hinweise auf Dokumentationen, Bewertungen und Literaturquellen zu Baumschäden durch Hochfrequenz enthalten (15).

Die zwischen Bürgern und amtlichem Strahlenschutz bestehende Differenz in der Informiertheit fände einen konstruktiven Ausgleich, indem Letztere sich einer Befragung ihrer Positionen durch Laien öffnete. Auch könnten Autoren von Verdachtsmeldungen vom BfS befragt werden, ob sie Einwände dagegen hätten, die fachliche Erörterung ihrer Hinweise durch das BfS zu veröffentlichen. Das Risiko, dass Schadfaktoren keine ausreichende Berücksichtigung und wissenschaftliche Würdigung finden, könnte vermindert werden. Die zur Isolation des Diskurses in geschlossenen Kreisen beitragende Mutmaßung, dass die Exekutive und ihre amtlichen Experten sich in einem Netz selbstbezogener Verweise verfangen haben, ließe sich auflösen. Beunruhigung entsteht, wenn es der Exekutive genügend erscheint, dass den in der Evolution neuen, ubiquitären, hoch differenzierten Emissionen einer komplexen Technik ein Monitoring gegenübersteht, das darauf beruht, mögliche Auswirkungen auf die weit höher differenzierte und komplexe Lebenswelt nach Maßstäben zu beurteilen, die sich auf Generalisierung theoretischer Ansätze, Pauschalisierung vereinfachender Modelle und unzutreffende und überholte Voraussetzungen stützten. Zugleich wird bei Hinweisen auf konkrete Verdachtsfälle auf Vorortuntersuchungen verzichtet. Dieses Schema hat jüngst in anderen Bereichen behördlicher Sicherheitsverantwortung zu heftigen Erschütterungen in Deutschland geführt.

Furcht, dass mit einer komplementären Forschung ungerechtfertigter Aufwand, Beunruhigung und Fehlregulation durch möglicherweise falschen Alarm einhergehen könnten, ist unangebracht. Der jüngst erschienene 2. Band der EUA-Studie zu wissenschaftlichen Grundlagen einer wirksamen Umweltvorsorge stellt sich der Problematik von Fehlentscheidungen, die infolge „falscher Alarme“ aufgrund „falsch positiver“ Risikobeurteilungen entstehen können. Von 88 untersuchten historischen und aktuellen Umweltrisiken, von denen behauptet wurde bzw. wird, sie seien infolge regulatorischer Eingriffe falsch positive, („claimed to be regulatory false positive“) erwiesen sich lediglich 4 als solche. Weshalb bei einer demgegenüber unverhältnismäßig hohen Zahl von 84 Risiken behauptet wird, sie seien durch Fehlregulation erzeugte falsche Alarme, „könnte in Teilen“, so der Bericht, „das Resultat einer absichtlichen Strategie“ von Beteiligten in der Risikodiskussion sein. (17) Frühzeitig mögliche Maßnahmen werden verzögert, je mehr die Argumentation sich durchsetzt, dass so lange davon ausgegangen werden dürfe, es handele sich möglicherweise um falschen Alarm, bis ein wissenschaftlich anerkannter Beweis für das Gegenteil erbracht sei. Solches Beharren auf einem argumentativen Übergewicht von Beweisen in Abwägungen unabgeschlossener Risikodiskurse soll in Verbindung mit unüberprüften Verweisen auf mögliche alternative Ursachen der Entkräftung von Indizien dienen.

Abhilfe sehen die Autoren darin, Forschung am Ziel auszurichten, Vorsorgeentscheidungen rechtzeitig zu ermöglichen. Diesbezügliche „irrtümliche Schlussfolgerungen sind inspiriert von der wissenschaftlichen Tradition, die auf einer akribischen und reproduzierten Überprüfung beharrt, bevor eine Hypothese als substanziell bezeichnet wird.“ „Die Wahl von Forschungszielen muss den gesellschaftlichen Bedarf an Informationen über wenig bekannte und potenziell gefährliche Risiken berücksichtigen.“ Die Forschung solle komplementär sein und brauchbares Wissen erschließen (18).

Bürger verstehen ihren Beitrag zur Risiko- und Vorsorgediskussion in eben diesem Sinne. Ihre Forderungen an Behörden und Politik nach mehr Bereitschaft, Transparenz und Beteiligung bei der wissenschaftlichen Überprüfung ihrer vorgebrachten Indizien für mögliche Baumschäden durch Mobilfunksender erweisen sich im Kontext der aufgezeigten Erkenntnisdefizite und der Ergebnisse der EUA-Studien als gut begründet.

Quellen: 

1. EUA, 2001: Späte Lehren aus frühen Warnungen, Das Vorsorgeprinzip 1896-2000, Langfassung
http://www.umweltdaten.de/publikationen/fpdf-l/2697.pdf

2. Elektromagnetische Felder und die belebte Umwelt http://www.bfs.de/de/elektro/papiere/EMF_Wirkungen.html

3. Stellungnahme zur Frage möglicher Wirkungen hochfrequenter und niederfrequenter elektromagnetischer Felder auf Tiere und Pflanzen http://www.bfs.de/de/bfs/forschung/stellungnahmen/EMF_Tiere_und_Pflanzen.html

4. Matthes, R., Bernhardt, J.H., Repacholi, M.H., 2000: Effects of electromagnetic fields on the living environment, Proceedings International Seminar on Effects of Electromagnetic Fields on the Living Environment – Ismaning, Germany, October 4 and 5, 1999, ICNIRP 10/2000

5. BfS, 2005; Positionsbestimmung des BfS zu Grundsatzfragen des Strahlenschutzes („Leitlinien Strahlenschutz“) http://www.bitkom.org/files/documents/Entwurf_Leitlinien_Strahlenschutz.pdf (beim BfS aktuell nicht abrufbar)

6. Maaß, G., Bundesministerium für Forschung und Technologie, 1990: Schreiben an Volkrodt vom 28.02.1990

7. Schorpp, V. 2006: Kasuistiken von Vorortuntersuchungen als Methode zur Ableitung kausaler Zusammenhänge, Originalvortrag, Fachgespräch beim Bundesamt für Strahlenschutz Oberschleißheim, „Gesundheitliche Auswirkungen der elektromagnetischen Felder des Mobilfunks – Befundberichte“ 2.8.2006, http://www.puls-schlag.org/download/Schorpp-BfS-02-08-2006.pdf

8. BfS, 2006: Protokoll des Fachgesprächs zum Thema „Gesundheitliche Auswirkungen der elektromagnetischen Felder des Mobilfunks – Befundberichte“, 2.8.2006, www.emf-forschungsprogramm.de/veranstaltungen/protokoll_fallbeispiele_111206.html

9. Bundesregierung, 2008: Beantw. parl. Anfrage Die Linke; Auswirkungen drahtloser Kommunikationstechnologien auf Tiere und Pflanzen; Ds. 16/10086, 5.8.2008; http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/100/1610086.pdf

10. Bay. StMUG an Waldmann-Selsam, 05.05.2009

11. Bay. St.Reg., 2011: Beantw. parl. Anfrage Abg. Fahn, FW; Mobilfunk als vermutete Ursache für Baumschäden verifizieren, Ds.16/8272, 13.05.2011

12. Bay. StMUG an Waldmann-Selsam, 27.02.2013.

13. Bay. St.Reg 2009: Beantw. parl. Anfrage Abg. Rinderspacher, SPD; Mögliche Baumschäden durch Mobilfunkexpositionen, Ds. 16/2504

14. Dt. Strahlenschutzkommission, 1991: Richtfunk und Radarwellen rufen keine Waldschäden hervor; 99. Sitzung der SSK 27.9.1990 http://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse/1990/Richtfunk_und_Waldschaeden.html;jsessionid=292E0707C87AD4184600D5F26C7DA1DF.1_cid344?nn=2783046

15. Waldmann-Selsam, C., 2010: Wirkungen elektromagnetischer Felder auf Pflanzen, Beobachtungen und Studien aus 80 Jahren, Internetpublikation der Kompetenzinitiative; http://www.kompetenzinitiative.net/downloads/ki_forschungsbericht-pflanzen_2010.pdf

16. Kurzfassung von 1 http://www.eea.europa.eu/de/publications/environmental_issue_report_2001_22/at_download/file

17. Grandjean, J., 2013: Science for precautionary decision-making; Late lessons from early warnings II – Part E – Implications for science and governance; Late lessons from early warnings: science, precaution, innovation http://www.eea.europa.eu/publications/late-lessons-2/late-lessons-2-full-report/part-e-implications-for-science-1

18. Foss Hansen, S., Tickner, J. A., 2013: The precautionary principle and false alarms; Late lessons from early warnings II Part A – Lessons from health hazards http://www.eea.europa.eu/publications/late-lessons-2/part-a-lessons-from-health-hazards

Dieser Artikel wurde übernommen aus:
Vorsorge und Bürgerbeteiligung – Das BfS und die Baumschäden
Strahlentelex mit Elektrosmogreport, Ausgabe Nr.630-631, 27. Jahrgang, 4. April 2013

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Mobilfunk gefährdet Gesundheit. Ärzte fordern überfällige Vorsorgemaßnahmen! / Zunahme schwerer Baumschäden im Strahlungsfeld von Mobilfunksendeanlagen, Teil III / Zunahme schwerer Baumschäden im Strahlungsfeld von Mobilfunksendeanlagen, Teil II / Zunahme schwerer Baumschäden im Strahlungsfeld von Mobilfunksendeanlagen