Im Schamhaar der Sprache, oder „Unsere Liebe ist wirklich“, schön! Über Kurt Drawert und dessen, wie Ingrid gestern Nacht sagte, „wirklich schönen“ Gedichte.

Morgen, ohne dich

Der Geruch, den du hinterläßt,
wenn du fortgehst, ist wie der Geruch
frischen Kaffees, den du mir aufgebrüht
auf den Tisch gestellt hast,

ohne daß ich das sehen kann, wie ich
in deinen Bewegungen bin, mit denen du
aufstehst, Kaffee kochst, dich anziehst,
um angezogen noch nackter zu sein,

als an der Stelle, an die ich denke,
wenn du weg bist in einem Bild,
in dem ich nicht vorkommen muß.
Ein paar deiner Haare liegen im Becken

und sind wie die Vorstellung, ich könnte
verlorengehen in deinen Empfindungen
wie die aschblonden Fäden, die dir
beim Kämmen ausgegangen sind – ganz anders

als die Haare, die auf dem Fußboden liegen
oder im Bett, was mich nun wieder an deine
Nacktheit erinnert, die nichts zu tun haben soll
mit dem Geruch, der verfliegt,

wenn der Kaffee kalt wird, nur weil der Tag
mit diesen Vorstellungen beginnt, ohne
versprochen zu haben, daß du in meinen
Bewegungen bist, wenn er neben uns endet.

Kurt Drawert

Von Chrysostomos

„Und im besonderen für Ute, / der Teilhaberin aller Tage“ (und Nächte, ist womöglich zu ergänzen) lautet die Widmung, die Kurt Drawert 1989 seinem ersten Suhrkamp-Band – vorausgegangen waren Veröffentlichungen im Aufbau-Verlag – vorangestellt hat. Privateigentum hat er ihn genannt, und angesichts dieses Titels, und angesichts dieser Zueignung, schreckt man fast vor dessen Lektüre zurück (was ein Fehler wäre), denn man will ja nicht stören, man mag ja nicht eindringen in diese Intimität, die fast mit Ausrufezeichen angekündigte Privatsphäre, in dieses alltäglich-allnächtliche Leben à deux, welches tatsächlich in nicht wenigen Gedichten aufscheint.

Doch halte man sich besser an Drawerts sehr wahren Satz, daß nämlich das Lesen von Gedichten reich mache, das Schreiben derselben hingegen in den Notstand führe (geäußert im Februar 2003 in Paris, im Gespräch mit Rodica Draghincescu). Ohnehin sagt Drawert, dem das Gedicht die „höchste Form von literarischer Bewältigung, vielleicht sogar von Wahrheit“, ist, dies: „Das, was das Gedicht nicht sagt, ist das Gedicht.“ Drawerts Gedichte sprechen vieles an und aus, verschweigen anderes, lassen so manches offen, und regen gerade dadurch zum Weiterdenken, zum Fortschreiben im Kopf des Lesers wie der Leserin an.

Geboren ist Kurt Drawert Mitte März 1956 im brandenburgischen Henningsdorf als Sohn eines Kriminalbeamten, was aber kaum dazu geführt haben dürfte, daß dort, in Drawerts Geburtsort, inzwischen „Tatort“-Folgen gedreht werden. 1967 ging es, nach Stationen in Borgsdorf und Hohen Neuendorf, nach Dresden. Nach der Ausbildung zum Elektronikfacharbeiter holte er auf der Abendschule das Abitur nach, arbeitete in einer Bäckerei und bei der Post sowie in der Sächsischen Landesbibliothek. Dort trug sich Drawert aus freien Stücken zu Nachtschichten ein und vermochte so, sich an den Beständen großzügig bedienend, seinen ins Manische gehenden Hunger nach Lektüre einigermaßen zu sättigen.

In den Achtzigern studierte er am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig; seit 1986 ist Drawert freier Schriftsteller, seit 1996 lebt er mit seiner Familie in Darmstadt. In der Darmstädter Textwerkstatt vermittelt er noch nicht publizierten Autoren das Handwerkszeug des Schreibens. Seit fast einem Jahrzehnt leitet der Leonce-und-Lena-Preisträger von 1989 das „Zentrum Junge Literatur“ in Darmstadt.

Für den Essay „Haus ohne Menschen. Ein Zustand“ wurde Drawert der Ingeborg-Bachmann-Preis 1993 zuerkannt. Er war Stipendiat der Villa Massimo in Rom und – 2002 – des Künstlerhauses Edenkoben. In diesem Jahr wird dem vielfach Ausgezeichneten in Uelzen der Werner-Bergengruen-Preis verliehen. Neben Gedichten (zuletzt Idylle,rückwärts. Gedichte aus drei Jahrzehnten. München: C. H. Beck, 2011) hat Drawert zwei Romane vorgelegt, darunter den ebenfalls bei C. H. Beck erschienenen Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte (2008), zahlreiche Essays und Kritiken, Theaterstücke und Hörspiele. Auch als Herausgeber ist Drawert hervorgetreten, beispielsweise von Liebesgedichten junger Autoren (Die Wärme die Kälte des Körpers des Andern, Aufbau-Verlag, 1988) und einer Werkauswahl des großen Karl Krolow, mit dem Drawert befreundet war und dem er in Privateigentum das Gedicht „Im Gehen“ gewidmet hat.

Drawert ist ein mit dem wachen Blick für den Alltag gesegneter Lyriker, ähnlich wie es, im New York der fünfziger und sechziger Jahre, Frank O‘Hara war, dem gleichfalls ein Gedicht gilt, eben „Für Frank O‘Hara“. Manche Verse, manche Bilder, manche Fügungen Kurts Drawerts wird man, einmal gelesen, kaum mehr vergessen (wollen). Beispielsweise „Geirrt durch das Schamhaar der Sprache“, wie „Satz, Poetik betreffend“ anhebt, oder – aus „Intim“ – die Verse „Da macht man vorläufig / ganz einfach weiter, steht auf, / putzt sich die Zähne, duldet / den zu hohen Blutdruck, / die Schlafstörungen, die Angst / vor Erektionen, für die es / keine Verwendungen gibt.“ Und dann ist da noch, in dem hier eingangs zu lesenden Gedicht, das Bild von einer, die sich anzieht, „um angezogen noch nackter zu sein“.

Drawerts Gedichte sind – nicht immer nur zarte – Tage- und Nachtbücher, in die ein Blick zu werfen zu jeder Stunde sich lohnt.

Tagebuch

Die Wolken treiben dahin
an diesem Morgen, wie die
Worte in meinem Herzen,

bis sie verschwinden, wie die
Wolken in diesen Morgen,
der Morgen in diesen Tag,

und der Tag in den Sätzen:
Das war eine Wolke oder
das war ein Morgen

verschwunden sein wird. Ich
denke, daß alles endet,
indem es beginnt, und

es ist Montag, und die Dinge
verschwinden, und ich gehe
aus dem Haus, über die

Straße, über den Platz, deine
Bemerkung erinnernd: „Unsere
Liebe ist wirklich“, wie dieser

Morgen, diese Wolken, dieser
Tag, wie die Worte in meinem Herzen
wirklich wirklich gewesen sein

werden.