Schönes Babylon? Vom Handwerk des Übersetzens. Ein Blick nach Edenkoben, in dessen Künstlerhaus Jahr um Jahr Dichter Dichter ins Deutsche schmuggeln. Seit 1988.

Edenkoben

Auf den Rebstöcken
angeordnet in vollkommenen Reihen
in den Strophen der Reben
warten die Trauben darauf
in Wein übersetzt zu werden

während in den Seiten
die französischen Silben
sich darauf vorbereiten
deutsche Poesie
zu werden

30. Sept. 1995

Jacques Roubaud

Von Chrysostomos

Von Joachim Sartorius, um es gleich zu sagen, stammt die Nachdichtung von Jacques Roubauds Rebstocksilbenstrophen-Petitesse. Original wie Übersetzung sind nachzulesen in der vielstimmigen Anthologie Schönes Babylon. Gedichte aus Europa in 12 Sprachen, die Gregor Laschen 1999 in Köln bei DuMont herausgegeben hat. Um den Titel zu präzisieren: der 358 Seiten starke Band versammelt Lyrik aus zehn (europäischen) Ländern aus elf Sprachen; die zwölfte ist die Zielsprache, die deutsche.

Im Künstlerhaus des an der Südlichen Weinstraße gelegenen Edenkoben kommen seit zweieinhalb Dekaden Jahr für Jahr (Nach-)Dichter aus dem deutschen Sprachraum mit ausländischen Kollegen zusammen, um in einer arbeitsintensiven Sommerwoche für deren Gedichte eine Schneise ins Deutsche zu schlagen. Grundlage dieser schöpferischen Auseinandersetzung mit dem Original ist eine philologisch möglichst genaue Interlinearversion des Ausgangstextes. Im Sprechen miteinander – des Dichters mit der Nachdichterin, des Nachdichters mit der Dichterin – entsteht aus dem zunächst Fremden etwas neuartig Nahes, das ein wie intensiv auch immer nachzuhörendes Echo der ursprünglichen Komposition in sich birgt.

Es gilt bei dieser Arbeit, übersetzungstheoretischen Gedanken von Felix Philipp Ingold folgend, die Gregor Laschens Vorwort voranstehen, das Original weiterzuschreiben und so den Weg des Lesers zum Autor keinesfalls zu eliminieren, wohl aber zu verkürzen. Der Übersetzer, hat Novalis gesagt, muß „der Dichter des Dichters seyn und ihn also nach seiner und des Dichters eigener Idee zugleich reden lassen können“. Damit er dies sein kann, „Dichter des Dichters“, muß er vor allem „in der eigenen Sprache zu Hause sein“ (Ingeborg Bachmann), muß häufig einer (ohnehin utopischen) Wort für Wort getreuen Übertragung adieu sagen. Der Nachdichter, so Paul Celan in einem Würzburger Seminar im Sommer 1965, muß „auf ein dem Original ent- und zusprechendes Gedicht“ abzielen, denn Wörtlichkeit, sagt der „Todesfuge“-Dichter, mache noch keine Poesie.

Daß die „Aufhebung des Abstands zwischen den Sprachen“ je nach Übersetzerin, und auch je nach dem zu übersetzenden Text, zu ganz unterschiedlichen Resultaten kommen kann, läßt sich in dieser Anthologie vortrefflich studieren. Häufig nämlich finden sich die Gedichte in mehr als lediglich einer Übertragung. Henri Deluys „Le boulanger est un homme en bleu“ beispielsweise haben Róža Domašcyna, Jürgen Theobaldy, Ursula Krechel, Gregor Laschen und Johann P. Tammen ins Deutsche gebracht: fünfmal „Der Bäcker ist ein Mann in Blau“, wobei sogar der Titel nicht immer identisch übersetzt ist.

Der 1932 in Caluire-et-Cuire, einer Vorstadt von Lyon, geborene Jacques Roubaud – er versteht sich als „compositeur“, nicht als „écrivain“ – ist bekannt vor allem durch seine experimentellen, sich einer strengen Vorgabe, einem Zwang unterwerfenden Romane. Die Kriminalromanparodie-Trilogie um „La Belle Hortense“ (Paris: Ramsay, 1985ff.) traf auch hierzulande, in der Übersetzung des Saarländers Eugen Helmlé, auf Erfolg. Früh schon ging von Zahlen und Mathematik, die er dann später als Professor an der Universität Paris-Nanterre auch lehrte, eine große Faszination auf Roubaud aus.

Die spielerische Produktion von Texten, die sich an mathematischen Regeln orientiert, ist typisch für die Gruppe OuLiPo, der Roubaud auf Einladung Raymond Queneaus beitrat. Die Werkstatt für Potentielle Literatur („L‘ Ouvroir de Littérature Potentielle“) ist ein seit 1960 bestehender Kreis von in der Mehrzahl französischen Autoren, dem unter andern Italo Calvino und Oskar Pastior sowie Georges Perec angehören. Von letzterem stammt der Roman La Disparation (1969), der kein einziges Mal den Buchstaben „e“ enthält; auch die deutsche Übersetzung, wiederum angefertigt von Eugen Helmlé, Anton Voyls Fortgang (1986 erstmals erschienen, bei Zweitausendeins; eine Neuausgabe ist soeben in Zürich bei diaphanes herausgekommen), kommt ganz ohne „e“ daher.

Die Dichter-Nachdichter-Treffen im Künstlerhaus Edenkoben werden noch immer fortgesetzt. Im Juni 2013 wird Polen zu Gast an der Weinstraße sein, im vergangenen Jahr war es die Türkei, zuvor, unter vielen anderen Ländern, Kroatien, Slowenien, die Ukraine, Finnland, Portugal, Rumänien. Die Früchte dieses Austauschs werden publiziert in der Reihe „Poesie der Nachbarn“, die seit 2004 nicht mehr in der Edition die horen erscheint, sondern im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn. Betreut wird sie von Hans Thill, dem Lyriker, dem Übersetzer, dem Verleger, der Gregor Laschen abgelöst hat. Zuletzt herausgekommen ist in diesem Frühjahr Geständnis eines Despoten. Gedichte aus Bosnien-Herzegowina. Die Übertragungen stammen von Brigitte Oleschinski und Kathrin Schmidt, von Ron Winkler, von Richard Pietraß und (zwei) anderen.

Hier noch Jacques Roubaud im Original:

Edenkoben

Sur les ceps rangés
en lignes parfaites
dans les strophes des vignes
les grappes attendent
d‘être traduites en vin

cependant que dans les pages
les syllabes françaises
se préparent à devenir
poésie
allemande

30 septembre 1995