Return to sender? Gestatten – Hans Magnus Enzensberger, Homme de lettres.

Empfänger unbekannt – Retour à l’expéditeur

Vielen Dank für die Wolken.
Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier
und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel.
Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn
und für allerhand andre verborgne Organe,
für die Luft, und natürlich für den Bordeaux.
Herzlichen Dank dafür, daß mir das Feuerzeug nicht ausgeht,
und die Begierde, und das Bedauern, das inständige Bedauern.
Vielen Dank für die vier Jahreszeiten,
für die Zahl e und für das Koffein,
und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller,
gemalt von Chardin, sowie für den Schlaf,
für den Schlaf ganz besonders,
und, damit ich es nicht vergesse,
für den Anfang und das Ende
und die paar Minuten dazwischen
inständigen Dank,
meinetwegen für die Wühlmäuse draußen im Garten auch.

Hans Magnus Enzensberger

Von Chrysostomos

Er ist ein Homme de lettres par excellence, einer, wie er im Buche steht (und längst in vielen Lexika und Literaturgeschichten), dieser Lyriker, dieser Essayist, dieser Verfasser von Erzählungen und fiktiven Biographien, von Kinder- und Jugendbüchern, von Schauspielen, eines Librettos – für Hans Werner Henze – von Hörspielen, von Übersetzungen aus zahllosen Sprachen, dieser Lektor (bei Suhrkamp, wo denn sonst), Redakteur und Herausgeber, dieser Stifter und Anstifter. Seit Mitte der fünfziger Jahre, seit den frühen Gedichtbänden verteidigung der wölfe (1957) und, abermals in damals programmatischer Kleinschrift, landessprache (1960), seit der noch immer einzig dastehenden, von ihm eingerichteten, ebenfalls 1960 herausgekommenen Anthologie Museum der modernen Poesie (deren Manko es allerdings ist, daß darin nur eine knappe Handvoll Frauen zu finden ist, ein Fehler, der auch in der Neuausgabe nicht behoben worden ist), ist Hans Magnus Enzensberger aus dem literarischen (und politischen) Leben der Bundesrepublik nicht mehr wegzudenken.

1929 im Allgäu als ältester von vier Brüdern geboren (Christian, vor vier Jahren verstorben, war Anglist in München, hat Lewis Carrol und Samuel Beckett übersetzt; Ulrich zählte 1967, gemeinsam mit dem Bamberger Dieter Kunzelmann und anderen, zu den Mitbegründern der legendären Kommune I), ist Enzensberger in Nürnberg aufgewachsen. Während der Luftangriffe wurde die Familie nach Wassertrüdingen evakuiert. Noch zum Volkssturm eingezogen, konnte er dem Dienst entkommen und nach Hause flüchten. Sein immenses Sprachtalent erlaubte es Enzensberger, als Dolmetscher und Mann hinter der Bar bei der Royal Air Force zu arbeiten, seine Spitzfindigkeit als Schwarzhändler trug zum Unterhalt der Familie bei.

In Erlangen promovierte Enzensberger 1955 Über das dichterische Verfahren in Clemens Brentanos lyrischem Werk. Mit Brentano, der ihm wie Benn und Brecht früh nahestand, sollte sich Enzensberger immer wieder beschäftigen, etwa in dem dokumentarischen Roman Requiem für eine romantische Frau. Die Geschichte von Auguste Bußmann und Clemens Brentano (Berlin: Friedenauer Presse, 1988). Gemeinsam mit Alfred Andersch war er Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk. Es folgten Stationen in Ulm, in Norwegen, in Mexico und in Lanuvio bei Rom. Bereits 1963 wird dem Revoluzzer und Reaktionär der Büchner-Preis zugesprochen. Nach einem ersten Aufenthalt in der Sowjet-Union geht es nach Frankfurt, dann nach West-Berlin, wo Enzensberger die Zeitschrift Kursbuch gründet. Hernach dann Stationen in Connecticut, bald, aus Protest gegen die amerikanische Außenpolitik, auf Kuba, doch wieder in New York und, bis heute, Reisen, Reisen, Reisen (vergleiche hierzu Ach, Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern, 1987). Zuhause ist Enzensberger, wenn er es denn einmal ist, seit 1979 in Schwabing.

Enzensbergers Lyrik, zumindest der späteren, eignet eine angenehme Leichtigkeit (nicht umsonst heißt ein Band von 1999 Leichter als Luft), ein ironischer Blick auf die bisweilen böse, böse Welt. Leicht wie Schäfchenwolken sind diese Gedichte (hierzu auch: Die Geschichte der Wolken, 2003), und darum kann man sich, wem gegenüber auch immer – „Empfänger unbekannt“ – dafür ja dankbar zeigen. Das lyrische Ich dankt für Bachs Wohltemperiertes Klavier und, im gleichen Atemzug, warum auch nicht, „für die warmen Winterstiefel“. Gut auch, daß das „Feuerzeug nicht ausgeht“, daß die Pfeife noch brennt, die sexuelle Begierde noch lodert. Das Koffein hält auch Dichter wach (T. S. Eliot: „I have measured out my life with coffee spoons“), also Dank, und selbstverständlich auch für den Bordeaux, gewiß ein guter.

Die „Erdbeeren auf dem Teller“, sie stammen von Jean Siméon Chardin („Der Erdbeerkorb“, 1760/61), sind also nicht nur schön anzusehen, sondern munden auch vorzüglich, denn es sind ja kleine, hocharomatische, französische fraises des bois. Einem Freund der Mathematik, der Kinder mit einem wunderbaren Buch darüber beschenkt hat, steht es gut an, zudem sich für die Eulersche Zahl e zu bedanken, die Basis des natürlichen Logarithmus. Und, mit ironischem Zwinkern, für die Wühlmäuse im Garten sowieso. Das Glück des Erdenlebens besteht eben darin, dankbar zu sein. Und gute Gedichte lesen oder gar schreiben zu dürfen. Das ist es, was Enzensberger hier vorführt.

NB: „Empfänger unbekannt“ stammt aus dem Band Kiosk. Neue Gedichte (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995).

NBB: Das Wasserzeichen der Poesie, also das, „was alle sich wandelnden Texte“ Enzensbergers „bis heute verbindet und zusammenhält“ (Heinrich Detering), hat der Meister 1985 in der von ihm betreuten „Anderen Bibliothek“ bei Greno unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr vorgelegt. Das Muster- und Lehrbuch trägt den schönen Untertitel Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. Wir danken, nicht nur dafür.