Vom Sinnen, sinnlich. Achim von Arnim ist zu licht zum Schlafen.

Mir ist zu licht zum Schlafen
Der Tag bricht in die Nacht
Die Seele ruht im Hafen
Ich bin so froh verwacht.

Ich hauchte meine Seele
Im ersten Kusse aus,
Was ist’s, daß ich mich quäle,
Ob sie auch fand ein Haus.

Sie hat es wohl gefunden,
Auf ihren Lippen schön,
O welche sel’ge Stunden,
Wie ist mir so geschehn!

Was soll ich nun noch sehen,
Ach alles ist in ihr,
Was fühlen, was erflehen,
Es ward ja alles mir.

Ich habe was zu sinnen,
Ich hab’, was mich beglückt,
In allen meinen Sinnen
Bin ich von ihr entzückt.

Achim von Arnim

Von Chrysostomos

1809, sein Verfasser zählte damals noch keine dreißig Lenze, ist dieses so schöne wie zarte Gedicht bei Georg Reimers Realschulbuchhandlung zu Berlin erschienen (um den vollen Titel des „Ersten Bandes mit Melodien“ anzuführen, dem es entnommen ist: Armuth, Reichthum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores. Eine wahre Geschichte zur lehrreichen Unterhaltung armer Fräulein aufgeschrieben). Mit der Gräfin Dolores – Goethe tat sie als ein „Narrenwust“ ab, hat Achim von Arnim, wenn man, was wir gern tun, Paul Michael Lützeler glaubt, ein „chaotisch wirkendes Gemisch aus Roman, Novelle, Sage, Mythos, Legende, Fabel, Anekdote, Predigt, Drama, Essay, Gedicht, Elegie, Lied, Reflexion und Aphorismus“ geschaffen. Gern, weil wir das Chaos durchaus kennen und, bisweilen, lieben.

Dieses elegische Liebesgedicht, dieses Nachtlied der Liebe, läßt sich auch außerhalb des Romankontextes lesen und goutieren. Es wird nicht lange dauern, bis sich der Zauber der Verse entzündet, bis sie einem nahegehen, bis man ihnen verfällt, um zum guten Schluß zuzustimmen, man habe nun was zu sinnen, sei beglückt, sei in allen Sinnen von ihnen, den über Kreuzreime verbundenen Verszeilen, von ihr, der Seele, aber doch wohl auch von der Geliebten, auf deren Lippen man ratzfatz (im „ersten Kusse“) selbige, also die Seele, aushauchte, „entzückt“.

Küssen ohne zu atmen ist schlechterdings kaum möglich, und so ist daran zu denken, ist mitzudenken, daß Atem vom Althochdeutschen herrührt, von „atum“, was soviel wie „Hauch, Geist, Seele“, Atemseele, bedeutet. Im übrigen wird die Nähe zum Volkston, zum Volkslied, zum Gedicht als vokalmusikalische – man verfolge beispielsweise das Spiel „a“ versus „i“ zum Auftakt – Petitesse bei einem wie von Arnim, einem Wassermann-Mann (Januar 1781 bis Januar 1831) durch und durch, nicht verwundern. Und auch zum Singen braucht es Luft, und Lust.

NB: Als Textvorlage dient hier die von Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Christian Rößner betreute, 2005 bei S. Fischer erschienene, Anthologie Das deutsche Gedicht. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, die die versammelten Gedichte ganz bewußt „in ihrer jeweils historischen Orthographie“ wiedergibt.

2 Gedanken zu „Vom Sinnen, sinnlich. Achim von Arnim ist zu licht zum Schlafen.

  1. Hast Du einmal recherchiert, ob das Wort „verwacht“ tatsächlich statt „erwacht“ vom Dichter gewählt wurde oder ob es ein Druckfehler war?

  2. Oh, Chrysostomos – wenn demnächst alle Bamberger mit glänzenden Augen durch ihre Welterbestadt schweben, weil verliebt, ist es alleine Ihnen zu verdanken!

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