Die aktuelle Bamberger Diskussion zum Thema Hexen

Andreas Reuß

Eine Hauptfrage zur gegenwärtigen Auseinandersetzung um den Hexenwahn lautet: Warum beschäftigen sich gerade jetzt so viele Menschen mit diesem schrecklichen Geschehen, das Jahrhunderte zurückliegt?

Dafür gibt es wohl ein Hauptmotiv: die Unsicherheit im Umbruch unserer heutigen Zeit, die der damaligen geistigen Situation zu ähneln scheint. Andere Motive sind wohl: Ablenkung von heutigen Problemen, der fehlenden oder verdrängenden Auseinandersetzung der Individuen mit sich selbst, den eigenen geistigen Hintergründen und Prägungen sowie Sensationsgier.

Andererseits klafft hier in der Tat noch eine „offene Wunde“, Schmerz und Trauer bedürfen nach wie vor der vielfältigsten Auseinandersetzung. Dabei dürfte es ähnlich sein wie bei dem unsagbaren Grauen aus der NS-Zeit: Die Gedächtnisarbeit wird niemals enden. Auch die NS-Zeit endete nominell zwar schon 1945, trotzdem ist die Wunde noch offen und darf niemals als geheilt gelten. Einen Schlussstrich darf es weder hier noch dort geben. Insofern ist es sehr gut, dass seit Jahren viele Artikel und Bücher sich mit dem Thema Hexen beschäftigt haben und vieles davon in Vorträgen, ja sogar in ständigen Führungen, dargestellt wird. Negativ ist die sensationsheischende Präsentation des Themas. Dieser Art muss durch seriöse Formen ein Riegel vorgeschoben werden.

Nun sind auf Seiten derjenigen, die sich um die „Wunde“ redlich bemühen, sogar Begriffe wie „Hexenverfolgung“ genauso in die Kritik geraten wie Ausdrücke aus der NS-Zeit.

Gerade in Bamberg hat die Verfolgung von sogenannten Hexen zu Beginn der frühen Neuzeit bekanntlich einen außerordentlichen Höhepunkt erreicht, unter anderem durch das eigens errichtete „Hexenhaus“. Überregional bekannt wurde Bamberg durch die „Bambergensis“ des Johann von Schwarzenberg, einem bedeutenden Buch der Rechtsgeschichte aus dem Jahr 1507, das u. a. auch auf die Strafen gegen sogenannte „Hexen“ eingeht (und sie im Auftrag des damaligen Fürstbischofs in „geordnete Bahnen“ lenken sollte).

Der Ausdruck Hexenverfolgung ist einerseits noch akzeptabel, weil er ein Fachausdruck der Historiker geworden ist (zuletzt in Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, Bd. I, 2009, S. 108; ein dokumentarischer Klassiker ist der Band von Wolfgang Behringer als Herausgeber: Hexen und Hexenprozesse, dtv-dokumente, 1. Aufl. München 1988, aus dem unten zitiert wird). Auch der Ausdruck „Reischskristallnacht“ bezüglich der schrecklichen Judenpogrome in Deutschland im November 1938 war ein Fachausdruck der Historiker geworden.

Außerdem gibt es heute eine Frauenbewegung, deren Mitgliederinnen sich selbst als „Hexen“ herausstellen und sich mit diesem Titel geradezu schmücken. Dazu gibt es mehrere gute Filmreportagen öffentlich-rechtlicher Produktion (3sat), die ich in meinem Besitz habe. Und auch vor den „Hexenverfolgungen“ der Antike, des Mittelalters bzw. der frühen Neuzeit (Schwerpunkt) war die Bezeichnung „Hexe“ nicht durchgehend negativ.

Zu kritisieren wäre an der Historiker-Sichtweise in der Tat die etwas zu neutralisierende Sprachverwendung. Neben den Opfern, aufgeklärten Bürgern und den meisten Politikern haben auch viele Historiker inzwischen das Bedürfnis, z. B. nicht einfach von „Reichskristallnacht“ zu sprechen, um nicht die „Sprache der – letztlich besiegten und moralisch zu verurteilenden – „Sieger“ verwenden zu müssen. Daher sprechen sie inzwischen meistens von der „Reichspogromnacht“ oder den „Novemberpogromen 1938“. Gerade die Nazis waren es ja, die viele Ausdrücke der deutschen Sprache ein für allemal mit ihrem bösartigen und unmenschlichen Ungeist unbrauchbar machten, u. a. die Ausdrücke „entartet“, „Sonderbehandlung“, „Endlösung“, „Blut und Boden“ usw. Damit haben sie einen bösen Schaden bis heute angerichtet. Diese Art der Sprachverwendung hat Victor Klemperer (1881–1960) in seinem 1947 erschienen Buch „LTI – Notizbuch eines Philosophen“ herausgearbeitet (Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reiches). Ähnlich tat dies George Orwell in seinem 1949 erschienen Roman „1984“, in dem ein „Propagandaministerium“ vor allem mit der Sprache „Gehirnwäsche“ betreibt.

Freilich erhebt sich die Frage, inwieweit man allgemein die Sprache derjenigen übernehmen darf, die das darauf bezogene Leid in der Geschichte verursacht haben. Zur Sprache über das Leid und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt unter Historikern und Geisteswissenschaftlern aller Richtungen in etwa dieser common sense: 1. Alles Leid ist in sich schrecklich, unvergleichlich und nicht gegeneinander aufzurechnen. 2. Trotzdem ist wohl der Holocaust das schlimmste Verbrechen, das jemals an Menschen geschah, „beispiellos in der Geschichte“, „singulär“, „ein neues Kapitel in der Geschichte menschlicher Untaten“ (nach Richard von Weizsäcker im Deutschen Bundestag und beim Deutschen Historikertag in Bamberg, 1988). Es ist unsagbar. Also darf man in diesem Fall nicht neutral formulieren, wobei die Sprache – auch die Architektursprache von Gedenkstätten – an ihre Grenzen stößt.

Warum soll man dann von „Hexen“ sprechen und so die damals damit verbundene Verurteilung, Folterung, grausame Tötung und persönliche Schändung übernehmen? Insofern ist andererseits dieser Ausdruck nicht mehr akzeptabel. Dies auch deswegen, weil der Ausdruck „Hexenverfolgung“, wie gesagt, geradezu reißerisch als Werbung benutzt wird, um damit sensationsheischende Bücher, Broschüren, Flyer, Führungen usw. im weitesten Sinn zu „verkaufen“ – womit die Opfer wiederum beleidigt werden. Auch die nach damaligem „Recht“, das oft Unrecht war, verurteilten Männer und Frauen sollten nicht einfachhin als Hexen bezeichnet werden.

Deshalb plädiere ich dafür, statt von „Hexenverfolgungen“ vom „Hexenwahn“ zu sprechen. Mit diesem Ausdruck fällt die Diskriminierung, die oft gegen willkürlich ausgewählte Menschen gerichtet war, auf die Täter zurück (auch wenn der Wahn / das „Wähnen“, u. a. von Richard Wagner positiv verwendet wurde). Deren Motive waren bekanntlich primitive Habgier, Verdrängung, Suche nach einem Sündenbock und Orientierungslosigkeit in einer Zeit der Umbrüche, ohne sich redlich mit den verschiedenen Richtungen auseinanderzusetzen. (Andere Motive kommen hinzu.)

Andererseits war die „Hexenverfolgung“ unter ganz bestimmten Fürstbischöfen und Weihbischöfen in ganz bestimmten Phasen in Bamberg weniger allgemein wahnhaft, sondern von diesen Amtsträgern genau berechnet und aus Gründen der Machtgier, der Unterdrückung und der Bereicherung eingesetzt. Opfer war zumindest phasenweise – als die Massen an Opfern zu beklagen waren – nicht ein „wahnhaftes“ Volk, sondern die wahnhafte Machtsucht der damaligen Obrigkeit (erkennbar im berühmten „Junius“-Brief des Bamberger Bürgermeisters, der dieser Obrigkeit, die er deutlich benennt, zum Opfer fiel). So ist also auch der Ausdruck „Wahn“ mit Vorsicht zu gebrauchen, und man darf nicht jederzeit davon ausgehen, dass es sich immer um einen „Massenwahn“ handelte. Trotz des zeitweise berechnenden Elements sprechen auch Historiker im Zusammenhang mit reinen Materialsammlungen von „Hexenwahn“ (Helmut Brackert, 1977). Andere gebrauchen im selben Buch den Ausdruck Verfolgung und Wahn im Wechsel (Hansjörg Rabanser, 2006).

Den Beginn einer großen Verfolgungswelle kann man mit dem Jahr 1626 ansetzen, als „furchtbare Mißernten“ eine Hexenjagd in Franken veranlassten, insbesondere im Hochstift Bamberg (zitiert nach Behringer): „Anno 1626 den 27. May ist der Weinwachs im Frankenland im Stift Bamberg und Würzburg aller erfroren wie auch das liebe Korn, das allbereit verblüett. […] Hirauf ein großes Flehen und bitten unter dem gemeinen Pöffel, warumb man so lang zusehe, das allbereit die Zauberer und Unholden die Früchten sogar verderben, wie dan ihre fürstliche Gnaden nichts weniger verursacht solches Uebel abzustrafen […]“. Hier wurde anscheinend die Obrigkeit vom „Volk“ her zur Abhilfe aufgefordert. Bei vielen Personen hatte man es wohl auf deren Besitz abgesehen, wie die Hinrichtungsstatistik in Würzburg von 1627 bis 1629 zeigt (nach Behringer): „Ein Edelknab von Rotenhan […] Ein reicher Büttner […]“ usw. Andere Motive liegen sicher zugrunde bei „Das Göbel Babelin, die schönste Jungfrau von Würzburg. Ein Student in der fünften Schule, so viel Sprachen gekonnt und ein vortrefflicher Musikus vocaliter und instrumentaliter.“ Viele von ihnen wurden bei lebendigem Leibe verbrannt.

Die Besitzgier kann nicht das Motiv gewesen sein bei „Ein fremd Mägdlein von 12 Jahren“ und vielen anderen jungen und fremden Menschen.

Es kommt wohl auch darauf an, ob man von der Geschichte des Hexenwahns allgemein spricht oder sich mehr auf bestimmte Phasen der „Verfolgung“ an bestimmten Orten bezieht. Außerdem muss man sich, wenn man sich damit umfassend und differenziert beschäftigt, überlegen, welchen geistigen Hintergrund man selbst hat und nach welcher Methode man vorgehen will, da niemand von sich sagen kann, er sei vollkommen „objektiv“ bzw. wissenschaftlich, nach welchem Verständnis auch immer. Schon die Wortwahl und die verwendeten Bezeichnungen oder Begriffe zeigen jeweils eine bestimmte Absicht an.

Grundsätzlich hat die Behandlung der Thematik, soweit ich sehe, zumindest vier Dimensionen: 1. eine historisch-wissenschaftliche, 2. eine politisch-gesellschaftliche, 3. eine moralisch-ethische und 4. eine rechtliche Dimension.

  1. Die historisch-wissenschaftliche Behandlung ist so umfangreich, dass sie im Grunde nicht mehr zu überblicken ist. Daher wären engere Eingrenzungen erforderlich, zum Beispiel auf die Stadt Bamberg und bestimmten Phasen oder gar einzelne Quellen bezogen. Aber auch dabei kann die gesamte Kulturgeschichte nicht aus den Augen verloren werden, wodurch dann wieder die geistige Ausrichtung des Forschers und seine Methode wichtig wird. Am besten scheint mir hier die historisch-kritische Methode bei der Untersuchung der Quellen geeignet, wie sie von Theologen auf die Bibel-Exegese angewandt wird – freilich gerade in diesem Fall ohne die Religion als weltanschaulichen Hintergrund zu nehmen.
  2. Die gesellschaftlichen Zusammenhänge sind zu Beginn schon angesprochen worden. Diese Zeittendenzen der Gesellschaft verlangen nach einer politischen Diskussion, unter anderem über etwaige Denkmäler, Gedenkstätten und die Formen, Inhalte und konkreten Folgen der weiteren geistigen Auseinandersetzung. Auch eine Institutionalisierung dieser Auseinandersetzung steht im Raum, wobei hier die politischen Hintergründe zu diskutieren wären. Zu diskutieren wären auch die Rollen der Institutionen Staat und Kirche und die Zusammenhänge mit den heutigen Erscheinungsformen.
  3. Schließlich ist nach der Klärung der schrecklichen Sachverhalte und im Zusammenhang damit eine Bewertung vorzunehmen. Philosophisch gesehen kann der Mensch gar nichts wahrnehmen, ohne es gleichzeitig zu bewerten. Das steht auch der oben genannten vollkommenen Objektivität im Wege. Deswegen sollte man sich darüber im Klaren sein, welche Bewertung man gleichsam als „Vorurteil“ mitbringt und dann diskutieren, welche Kritik und Weiterentwicklung angebracht wäre. Moral ist bekanntlich wiederum ein uferloses Thema, es hängt mit dem Menschen- und Weltbild sowie mit den daraus folgenden Wertesystemen der abendländischen Geschichte zusammen. Trotzdem sollte man sich, wie gesagt, darüber im Klaren sein, welche Werte man, wie gesagt, „mitbringt“ und diese dann kritisch diskutieren oder neu fassen. Auch dieser Diskurs darf nie beendet werden. Konkrete Konsequenz wäre unter anderem so etwas wie ein Schuldbekenntnis als ein erster Schritt. Von dieser Schuld, Verantwortung oder Haftung – wie immer man das nennen mag – ist, meiner Meinung nach, niemand ganz ausgeschlossen, weder die Bürger, die Stadt, die Kirche noch die staatliche Obrigkeit.
  4. Hinzu kommt die rechtliche, rechtsstaatliche und rechtsgeschichtliche Dimension. In diesem Zusammenhang sind die damaligen wie heutigen Zuständigkeiten zu klären, die rechtlichen Grundlagen sind zu vergleichen und eine Art „Bewusstseinsgeschichte“ wäre zu untersuchen, also unter anderem die Fragen des Rechts- oder Unrechtsbewusstseins oder der Zurechnungsfähigkeiten. Sehr interessant ist auch der Verlauf der sogenannten Hexenprozesse.

Weitere Dimensionen sind zum Beispiel die ökonomisch, die psychologische und die religionsgeschichtliche.

Deswegen sollte in Bamberg eine Stätte (größere Räumlichkeiten, Haus) geschaffen werden, die zum weiteren Diskurs anregen, den Diskurs dokumentieren und aktuell seriös stattfinden lassen kann (Diskussionsrunden, Vorträge, Vorführungen usw.).

Literaturhinweis:
Kreative Köpfe bis hin zur Klosterfrau. Mit Bambergs Vergangenheit eng verwoben ist die Geschichte der Schwarzenbergs. Ihnen verdankt man die 1507 erschienene „Peinliche Halsgerichtsordnung“ und die Episode einer Priorin, die aus dem eigenen Kloster floh. [Auf der Basis eines Interviews mit Andreas Reuß] In: Fränkischer Tag, Bamberg, 25.9.2007, Text von Petra Mayer, S. 14.

Ein Gedanke zu „Die aktuelle Bamberger Diskussion zum Thema Hexen

  1. Eine gute Sache vorweg: die Diskussion bekommt durch die vielfältigen kompetenten Historikeräußerungen der letzten Tage zum Thema „Hexenverfolgungen“ trotz allem ein sachliches Fundament.
    Aber. Bei soviel Sachkompetenz bleibt ein „Gstänkle“, und das macht wütend. Allzu viele Zahlen, Daten und Archivalien helfen über Vieles immer noch nicht hinweg. Schnell wird klar, wieviel Verschleierung eine schon „so umfassende“ Analyse, wie auch diese hier, enthalten kann. Es kann doch einfach nicht sein, dass imgrunde wiedermal alle nur Schuld haben, wenn gar auch nur ansatzweise überhaupt je von Schuld gesprochen werden darf?
    Es ist erneut sehr bezeichnend, wie schnell sich Historiker aus dem „moralischen Staube“ machen können, aber dies endlich nicht mehr dürfen. Geschichstaufarbeitung kommt bis dato leider nachhaltig immer noch ohne moralische Positionierung aus. Ein ähnliches Programm hatten wir doch schon mal, oder?, wir unter Historikern?. Nur ein kleines „un?moralisches“ Beispiel am Rande : Kunsthistoriker halfen, „deutsche“ Kunst aufzuarbeiten und gegen alliierte Bombenangriffe zu schützen, gleich nebenan wurden Juden vergast!.
    Herr Reuß denkt und funktioniert immer noch gefährlich falsch. Er leugnet ganz offensichtlich die moralische Schuld der Kirche als ideologische Kraft und Kompetenz für derlei Greuel. Allein das Wort „Kirche“ kommt im ganzen Beitrag nur ca 2x vor. Das hat was, besonders in Bamberg! Spielt sich nicht die Kirche stur als einzig verbliebene moralische Kraft und Größe auf? Schon allein deswegen ist es ihre „verdammte“ Pflicht, ihre wohl einmal vor Jahren gehauchte „Entschuldigung“ vor Bambergs Bürgern täglich 7x zu wiederholen, damits endlich auch der letzte (Ungläubige) kapiert. Sie kann keinesfalls so einfach aus der moralischen Verantwortung und Schuld für die „Hexenverfolgungen“ entlassen werden. Und ich benutze dabei bewußt weiter den Begriff „Hexenverfolgung“, nicht „Hexenwahn“, gegen die Meinung des Autors. „Wahn“ verschleiert wieder nur weiter, „Verfolgung“ fragt nach „wer“ und „wen“ und insofern nach Verantwortung und Schuld. Eleganter kann man die „Kirche“ nicht aus ihrer historisch-politisch-moralischen Verantwortung verabschieden, wie es mal wieder hier geschieht. Auch die Angewohnheit ist leider immer noch unter Historikern verbreitet, sich durch die Hintertür auch aus ihrer in der moralischen Qualität der Aufarbeitung liegenden höchsteigenen Verantwortung hinauszustehlen. Herr Reuß gesteht zwar irgendwo Historiker-Schuld in Form einer „etwas zu neutralisierenden Sprachverwendung“ ein (ein zweifelsfrei grundsätzlich durchaus sehr interessanter Aspekt), was aber weiterhin rein nichts mit ihrer andauernden moralisch-sachlichen Verwicklung wie wieder auch in diesem Fall zu tun hat.

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